Freitag, 9. Dezember 2022

Kurzgeschichte Nr.13 "Das Gespräch im Spiegel"

Es war einmal heute. Das Heute von heute. Das Jetzt.
 
Sie atmete flach... Wie konnte der Körper nur funktionieren mit so wenig Sauerstoff? Kaum hob und senkte sich ihr Brustkorb... Sie atmete tief ein. Und wieder aus. Ungewohnt... Also wieder flach atmen... So als wäre sie auf der Jagd und würde versuchen, keinen Mucks von sich zu geben. 
 
Plötzlich hörte sie ein Geräusch von der Fensterbank. Sie drehte sich um. Da saß eine graue Taube! "Wer bist du?" dachte sie sich "Woher kommst du und was willst du..? Was ist dein Begehren?" Die Taube schloss die Augen und öffnete ihre beiden Flügel. Spreizte sie weit auseinander... Da hörte Louisianne die Stimme der Taube in ihrem Kopf. "Ich bin dein Schicksal, das auf dich wartet..." Louisianne schloss ebenfalls die Augen und versuchte sich auf die Stimme der Taube in ihrem Kopf zu konzentrieren... "Aber mein Schicksal hat bereits begonnen..,- es steht fest." "Wie kommst du darauf? Weißt du denn nicht,-..?" Die Taube unterbrach sich, dann Stille, dann ein Autoquietschen und wieder Stille. Louisianne öffnete die Augen. Die Taube war weg. 
 
Louisianne rannte zum Fenster und sah nach unten. Da lag die Taube, platt und zerquetscht, die Eingeweide quollen zu beiden Seiten aus dem Körper, der Kopf war aufgeplatzt, man konnte nur noch einen kaputten Schnabel ausmachen. "Was weiß ich nicht?" rief Louisianne. "W-a-s weiß ich nicht?!?" 
 
Keine Antwort, die Taube war tot. "Die Fensterscheibe ist ganz schön schmutzig" dachte Louisianne verärgert. Die muss mal wieder geputzt werden. Sie seufzte. Dann ging sie ins Bad, nahm den kleinen Eimer, ging in die Küche und ließ heißes Wasse mit Spüli ein. Sie nutzte den Moment und hielt ihre rechte Hand in den mehr als warmen Wasserstrahl. Das tat gut... Kurz die Augen schließen und genießen... Dann die Augen wieder auf und die Hände abgetrocknet... Sie suchte sich die Putzsachen zusammen, zog die kleine Leiter hinter dem Schrank hervor und ging ins Schlafzimmer.
 
Warum hatte sie sich auch gerade hingelegt? Es war doch hellichter Tag? Müde war sie eigentlich nicht gewesen, aber ruhebedürftig. Sie stellte sich vor das Fenster, klappte die Leiter auseinander und bestieg die breiten Stufen. Eins, zwei, drei. Sie warf nochmal einen Blick aus dem Fenster. Dort, wo eben noch die tote Taube gelegen hatte, war nun eine tiefschwarze Wasserpfütze. Louisianne öffnete das Fenster und beugte sich weit noch vorne. Sie schaute jetzt direkt in die Pfütze. Diese war glatt wie ein Spiegel. Louisianne sah sich selbst. Große Augen, Stubsnase und einen schmalen Mund,- nicht den vollen einer Diva, eher der verschmitzte von einer Kumpeline, mit der man Pferde stehlen konnte. Louisianne öffnete die Lippen und formte ihren Mund zu einem "O". Plötzlich bewegte sich in der spiegelnden Pfütze im Schwarz ihres geöffneten Mundes etwas. Zwei kleine Augen blinzelten hervor. Louisianne sah den Kopf der Taube in ihrem Mund! Wie aus einem Astloch schaute die Taube daraus hervor... 
 
Louisianne schloss ihren Mund, presste die Lippen fest aufeinander, zog sich zurück und machte das Fenster zu. Sie spürte nichts. Die Taube war nicht in ihrem Mund. Nur ihre Zähne und ihre Zunge... Vorsichtshalber schluckte sie den gesamten Speichel herunter. Sofort wurde neuer produziert und drang aus den Drüsen, die unter ihrer Zunge lagen. Auch diesen schluckte sie hinunter. Da kam ihr Freund von der Arbeit heim. 
 
Sie hörte die Wohnungstür aufgehen und dann seine Schritte... Da stand er im Türrahmen. Er lächelte, schaute sie strahlend an und fragte: "Wie war dein Tag?" Louisianne stieg von der Leiter und rannte auf ihn zu. Sie wollte ihm alles erzählen. Eifrig öffnete sie ihren Mund, da spürte sie sie... Die Taube... In ihrem Mund! Louisianne konnte den Mund nicht mehr schließen, so füllte die Taube ihren gesamten Mundraum aus. Die Taube fing an zu gurren. Sie gurrte und gurrte und gurrte. Wie ein plätschernder Bach. 
 
Louisianne erstarrte. Ihr Blick verengte sich. Sie konnte gerade noch erkennen, wie ihr Freund ihr interessiert in die Augen schaute und fragte: "Ach wirklich, und dann? Erzähl weiter...". Die Taube wippte mit ihrem Kopf auf und ab und gurrte in den unterschiedlichsten Tonlagen. Da erstarrte auch Louisianne`s Freund. Gemeinsam standen sich Louisianne und ihr Freund gegenüber, Louisianne mit geöffnetem Mund und ihr Freund mit einem interessierten Blick, dem Gurren der Taube fasziniert lauschend. "Er schaut mir in die Augen, direkt in die Augen und er hört mir zu" dachte sich Louisianne noch... Sie war sich sicher, daß das Gurren der Taube keine Bedeutung hatte.
 
Zumindest nicht für sie...
 
HvvH`20/10/22 entstanden in Neugreußnig (Ebersbach) bei Döbeln, Sachsen

Kurzgeschichte Nr.12 "(ohne Titel)"

Geradeaus ging es nicht weiter. Zur Seite war auch alles verbaut. Also wieder zurück.Wieder an all den Dingen vorbei, die sie bereits gesehen hatte. 
 
Aber, so tröstete sie sich,- die Dinge wären zwar dieselben, nicht aber die Menschen. Die wären anders, allein schon weil sie nicht mehr dieselbe war. Sie würde sie mit anderen Augen sehen. Aber wollte sie das überhaupt? Wenn man es ganz genau nahm, müßte man sich eingestehen, dass es kein Zurück gab. 
 
So wie die Zeit immer nur zukünftig voranschreitet, so geht auch der Lebensweg immer nur schnurstracks gen Neuland. Nie weiß man da, woran man ist. Und das ist auch gut so. So kann man davon träumen, was wohl bald sein wird und wie sich die Dinge entwickeln, oder einfach nur dankbar sein dafür, wie sich das Leben in der Gegenwart verhält... 
 
Wenn es also im Leben nur voran geht, dann, so dachte sie mit plötzlichem Trotz,- dann auch hier. Sie würde geradeaus gehen und ihren Weg schon finden. Sie würde weder kehrt machen, noch seitlich einen Weg suchen, sondern direkt und der Nase nach vorwärtsschreiten. Also trat sie an den Baustellenzaun und lugte durch die Holzlattenritzen. 
 
Das was sie sofort erkannte war das riesige Bauloch. Das was ihr erst auf den zweiten Blick ins Auge fiel, war die tote Katze. Sie lag quer über einem Stapel rostiger Stahlträger, und ihr Verwesungszustand war schon so weit fortgeschritten, dass ihr geplätteter Körper wellenförmig an den unebenen Untergrund angeschmiegt war. Der Bauch war eingefallen und der Brustkorb ragte deutlich hervor. Die Katze, sie musste schon eine ganze Weile dort liegen... Arme Katze! Wodurch sie wohl ihren Tod gefunden hatte? 
 
Lilli stellte sich vor, dass die Katze über das Baustellengelände tappste und beim Überqueren der Stahlträger einfach tot umfiel. Ja, das schien ihr am plausibelsten. Alles ander wäre zu theatralisch. Es hatte kein Jagd stattgefunden, kein Feind hatte sich der flinken Vierbeinerin entgegengestellt oder sie hinterrücks gemeuchelt. Sie war einfach sang und klanglos erloschen. 
 
Und nun lag sie da, und der einzige, der sie zu sehen schien, war Lilli. Wo waren überhaupt die Bauarbeiter? Es war unter der Woche, eigentlich müsste auf dem Baustellengelände rege und lautstarke Arbeit vorherrschen, aber es war mucksmäuschenstill und kein Mensch zu sehen. Nur die Sonne brannte in das grellreflektierende, ockerfarbene Bauloch und kleine Sandwolken wehten zwischen den aufgehäuften Bauschuttbergen. 
 
- unvollendet
 
HvvH`16/07/14 - entstanden in Neugreußnig (Ebersbach) bei Döbeln, Sachsen

Kurzgeschichte Nr.11 "Mit der Nase voran"

Er war eher der ritterliche Typ. Könnte man meinen. Nur was genau hieß eigentlich ritterlich? Wäre es ritterlich gewesen, wenn er einem beigestanden hätte, oder war es tatsächlich ritterlich, dass er es vorzog sich zum passenden Zeitpunkt zurückzuziehen? Im Grunde waren wir doch alle Egoisten und redeten uns unser Verhalten einfach nur schön. Ritter hin oder her,- das Pferd war jedenfalls weg! Und darum tat es ihr eigentlich am meisten leid... Es wäre ihre Chance gewesen. Nicht nur um zu überprüfen, ob das Ideal, das sie sich schon seit ihrer frühesten Kindheit von diesem edlen Begleiter gemacht hatte, auch nur annähernd der Wirklichkeit entsprach, sondern auch, um zu sehen, wie so ein märchen- und sagenhaftes Geschöpf wohl auf sie, auf ihre ureigenste Person, reagiert hätte. Ob es sich ihr anvertraut, oder sie stattdessen vielleicht völlig ignoriert hätte. Nun würde sie es niemals erfahren...

Aber nein, auch das glaubte sie nicht wirklich. Sie würde es erfahren. Eines Tages, bei Zeiten. Nur war der Weg nun keine Abkürzung mehr, und er trug auch einen anderen Namen. Der wahre Weg war eben nie eine Abkürzung. Am Ende würde sie nicht passiv errettet werden, sondern sie würde sich aktiv selbst verwandeln. Verwandeln in eines jener Geschöpfe, nach denen sie sich schon immer gesehnt hatte. Geschöpfe, die nie sprachen, außer mit ihren Augen, diesen wundervollen, dunklen, glänzenden Halbkugeln, die so viel zu sehen schienen. Geschöpfe, die eine immense Kraft besaßen, ohne brachial zu sein und stattdessen an vielen Stellen ihres Körpers eine erstaunliche Feingliedrigkeit besaßen. Geschöpfe, deren Zeit, falls sie denn an ihrem schwächsten Punkt verletzt werden würden, augenblicklich abgelaufen wäre, weil der schwächste Punkt, einmal gebrochen, nicht mehr genügend Stabilität für die unbändige Kraft des Lebens besessen hätte. 
 
Diesen Umstand hatte sie früher als extrem unfair empfunden, als grotesk und absolute Verschwendung der Schönheit, des Anmutes und Zaubers,- aber nun wusste sie, dass es nur konsequent war. Warum auch so tun, als würde es immer weitergehen. Wenn es doch nicht stimmte. In den alten Geschichten war in einem solchen Falle Schluss. Nur im Leben ging es immer weiter. Obwohl man noch gar nicht verstanden hatte, was einem da eigentlich gerade passiert war. Sich nicht klargemacht hatte, was man davon hätte halten können. Und absolut keine Vorstellung davon entwickelt hatte, wie man hätte handeln können.
 
Aber was diesen letzten Punkt anging, hatte sie schon immer eine sehr eigenwillige Haltung eingenommen. Sie überliess ihn in einem solchen Fall einfach gerne der Zeit. Diese würde dieses Tohuwabohu nach und nach zusammensammeln, es ordentlich durchkneten, wenn es sein musste, über Jahre hinweg, den Teig dann, solange es nötig sein würde, liegenlassen, so dass er quellen würde bis er durch und durch luftig und weich wäre. Nach einer solchen Behandlung wäre schließlich alles bereit,- jedes Problem, jeder erbärmliche Gedanke, jedes noch so verquere Gefühl, und alles was die Zeit dann lediglich noch zu tun hätte, wäre dieses Problem, das schon keines mehr wäre, durch die Hitze der Jetztzeit wieder zu aktivieren.
 
Die Veränderung kündigt sich dem Menschen dann mit einem Duft an. Einem Geruch, der ihn an vergangene Zeiten erinnert, an Menschen, deren Wege er einmal gekreuzt hat. Der Mensch weiß es nicht, aber bevor er jemanden nach langer Zeit wiedertrifft, kann er ihn - lange davor schon - auch wirklich wieder riechen...
 
HvvH`03/04/13 - entstanden in Düsseldorf

Kurzgeschichte Nr.10 "(ohne Titel)"

Zur Ruine, da zog es sie hin. Die Vorstellung ihn dort schicksalhaft zu treffen, war so fest in ihrer Vorstellung verankert, als ob sie eine Wahrsagerin mit Auszeichnung wäre. Er würde ahnungslos angejoggt kommen, sie würde mit hochgezogenen Knien seitlich angelehnt in einem toten Fensterauge aus Mauergestein sitzen und in die Landschaft schauen. Das war elementar wichtig. Dieses im-Schicksal-aufgehoben-sein und nicht-daran-zweifeln, dass der Traum sich realisieren würde. Gleichzeitig die vermeintliche Gleichgültigkeit gegenüber der realen Umsetzen des lange Erwarteten. Wie eine Schlafwandlerin würde sie ihn begrüßen, ruhig und befriedigt.

HvvH`19/01/08 - entstanden in Düsseldorf

Kurzgeschichte Nr.9 "Wenn der Schlüssel fehlt"

Irgendwie klemmte die Tür. Er zog und zerrte, drückte dann und presste mit beiden Händen, aber sie rastete auch nicht mehr richtig ein. Und der Autoschlüssel war bei Karl... 
 
Zu dumm, was sollte er nun machen? Warten? Das konnte Stunden dauern! Einfach gehen? Wenn er die Tür nicht mehr aufbekam, würde das schließlich auch kein Fremder schaffen. Er hasste diese Halbzustände, wenn etwas nicht richtig drin aber auch nicht richtig draußen, nicht richtig offen aber auch nicht richtig zu war. Wenn etwas nicht richtig richtig war. Damit konnte er nur schlecht leben. Er fühlte sich dann sehr unwohl und absolut unentspannt. 
 
Aus einem Reflex heraus trat er mit der weichen Gummisohle seines Wanderstiefels gegen die Tür. Etwas im Scharnier zerbarst. Na toll! Mit einem störrischen Quietschen schwenkte die Tür langsam auf. Er schaute mit stumpfem Blick in das Innere des Wagens. Hol ́s doch der Teufel! Er war nicht in der Lage auch nur den kleinsten klaren Gedanken zu fassen. Warum war er nicht einfach im Wagen liegengeblieben? Gut, das war zwar nicht sehr bequem gewesen, aber immerhin hatte er eine Decke und ein Dach über dem Kopf gehabt. Und die Autopapiere zum Lesen. Immerhin. Und jetzt? Jetzt war der Wagen kaputt. Weil er sich mal wieder nicht hatte beherrschen können. Wieviel so eine Reparatur wohl kosten würde? Bestimmt so einiges. Und das Gesicht von Karl konnte er sich auch schon ausmalen.
 
Instinktiv schaute er nach hinten. Karl näherte sich dem Parkplatz. Wieso jetzt schon? Zuerst kam und kam er nicht, aber kaum hatte Erhard wieder mal was verbrochen, erschien er pünktlich wie ein Engel um zu richten. Zu richten mit strengem Blick, zutiefst enttäuscht, so dass Karl in Rage geriet, und Vorwürfen die auch noch alle absolut berechtigt waren.
 
HvvH`XX/08/06 - entstanden in Düsseldorf

Kurzgeschichte Nr.8 "(ohne Titel)"

Übel war ihr. Nicht so sehr im Magenbereich, vielmehr im Kopf. Sie spürte förmlich die Maschinerie hinter ihrer Stirn arbeiten, immer und immer wieder in derselben Prozedur. Sie atmete die kalte Luft tief ein und es wurde ihr besser. Langsam legte sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Erinnerungen wollten in ihr Bewusstsein, keine schönen, aber durch die Ferne des Schmerzes bittersüße. Sie ließ sie nicht herein. 
 
Noch einmal atmete sie eiskalte Luft, streckte ihre Arme aus und schaute nach unten. Das Großstadtmeer breitete sich zu ihren Füßen aus. Autos, so winzig, dass man ihren Lärm nicht mehr wahrnahm, Häuser und Plätze und Seen und Parks. Alles was zum aufregenden, abwechslungsreichen Leben in einer Metropole gehörte lag versammelt zu ihren Füßen. Marianne führte ihre Hand nach unten und streichelte die Autos, Straßen, Kirchen, Grünflächen, alles streichelte sie, aber die Menschen streichelte sie nicht, zu klein waren diese, sie konnte sie nicht sehen.
 
Ihr friedvolles, segnendes Lächeln verschwand und an seine Stelle trat eine Fratze. Mit weitaufgerissenem Mund, die Lippen hinter Zähnen und Zahnfleisch angespannt, rollte sie mit den Augen, legte ihren Kopf in den Nacken und schrie. Sie schrie und schrie und schrie. Sie schien in mehreren Stimmlagen gleichzeitig zu schreien. Hoch und grell, dumpf und krächzend, kraftvoll und gewaltig. Und doch hörte sie selbst nur einen geringen Prozentsatz dessen, was aus ihrem Rachen stürzte. Der Wind trug alles mit sich fort. Sie schrie auch noch, als sie längst wieder einatmen wollte. Sie presste den letzten Kubikzentimeter Luft röchelnd aus sich heraus, reinigte ihren Körper durch diese konsequente Lufttransfusion, die auch die letzten Kämmerchen ihrer Lunge leerte. Dann versagten ihre Beine. Der Körper klappte zusammen, ihr Po knallte auf ihre Fersen, und mit dem Rücken plumpste sie auf das geteerte, flache Dach. 
 
Sie rang nach Atem. Wand sich nach rechts und links, hob ihre Hände an ihr Gesicht und atmete ein. Lange ein. Tief ein. Ihr Körper wuchs und schwoll an. Die Rippen öffneten sich wie eine Blume. Sie stampfte mit den Fußflächen links und rechts auf den Boden, hob ihren Hintern an und drückte den Rücken durch. So verharrte sie bis es nicht mehr weiterging. Sie war voller Luft. Voller kalter, klarer,reiner Luft. Dann wurde sie ohnmächtig.
 
Sie erwachte, als es anfing zu regnen. Kleine Tropfen platschten auf ihr Gesicht, kitzelten sie an der Nase, flossen in ihren Mund. Waren sie salzig? Weinte der Himmel? Sie drehte sich auf den Rücken und blinzelte lächelnd nach oben. Sei nicht traurig, ich werde dich trösten, dachte sie und streckte ihre Hand in die dunklen Wolken. Erst wusste sie nicht genau welche sie nehmen sollte, dann entschied sie sich für eine kleine runde Wolke, die aussah wie ein Gesicht mit einer Clownsnase. Diese pflückte sie vom Himmel und stopfte sie sich bedächtig in den Mund. Ich werde den Himmel trösten, dachte sie, er soll nicht traurig sein wegen mir. Und so pflückte sie schnell Wolke um Wolke vom Himmel, verschlang sie und fühlte sich glücklich. Die Sonne strahlte vom Himmel, er war wieder blau. Marianne wischte sich die Tränen von den Wangen und lächelte verschämt. Sie schaute auf ihre Uhr, es war siebzehn Uhr einunddreißig. Das Leben erwartete sie.
 
HvvH`XX/08/06 - entstanden in Düsseldorf

Kurzgeschichte Nr.7 "Die Ziellinie"

Schnell packte sie ihre Sachen, schaute nochmal nach, ob alle Lichter gelöscht, die Herdplatten aus und eventuell gefährliche Stromstecker aus den Anschlussdosen gezogen waren. Sie schämte sich immer ein wenig für solche in ihren Augen vermeintlich zwanghafte Handlungen. Natürlich könnte sie ihre Ängste einfach ignorieren, dann würde sie sich normaler vorkommen , aber dann würden sie auf dem Nachhauseweg die Änste plagen, und das war ihr dieses kleine Gefühl normal zu sein, so wie die anderen, die Gesunden, einfach nicht wert. 
 
Als sie auf die Straße trat, zog sie die eiskalte Luft scharf ein, ein kleiner Schauer zog sich durch ihren Oberkörper und verlief sich irgendwo im Wirbelsäulenfortsatz, diesem kleinen Stück Erinnerung an die Zeit, als der Mensch noch Tier war. Sie besäße gerne noch diesen Affenschwanz, dieses fünfte Bein, um sich an Ästen festzukrallen, die der Mensch nun geflissentlich ignorierte. Um sich abzustützen, falls die Beine einmal ihren Dienst versagten, so dass man nicht verräterisch irgendwo mit den Händen Halt suchen mußte, wenn man z.B einer alten, nie gelebten Liebe begegnete, und man das Gefühl hatte, man müsse gleich in Ohnmacht fallen. Mit diesem Schwanz könnte man auch seine Freude zum Ausdruck bringen, ohne ein Wort, man könnte sich, wenn man ein Geschenk erhielt einfach mit einem furiosen Schwanzwedeln bedanken und dazu ein zufriedenes Kamelgrinsen präsentieren.
 
Vieles wäre einfacher, hätte man noch seinen Schwanz. Und eindeutiger. Sie atmete die erwärmte Luft in einer kleinen Wolke aus und ging auf die Bahnhaltestelle zu. Vielleicht war es gut so, dass der Mensch seinen Schwanz nicht mehr besaß. Wahrscheinlich würde es ihm sonst schwerer fallen Gefühle zu verstecken. Vielleicht besäße er nicht die mentale Kraft um dessen Regungen zu unterdrücken. Und das könnte einem in der Welt, in der die Menschen heute lebten, hinderlich sein.
 
Vielleicht waren die Frühmenschen, die noch einen Schwanz besaßen ja deshalb ausgestorben, hatten sich nicht so gut fortpflanzen können wie ihre Artgenossen mit verkümmerten Schwänzen, deren Gefühle nicht ersichtlich waren und im Verborgenen lauerten. Gefährlich waren die, nie konnte man wissen was sie dachten. Wenn sich deren kaum noch sichtbare Nackenhaare bei Feindberührung aufstellten, der Puls sich beschleunigte und die Pupillen sich weiteten, war man als unaufmerksamer Beobachter dennoch nicht wirklich gewarnt. Würde sich der Schwanz jedoch kerzengerade aufstellen, mit einer Spitze die angespannt von links nach rechts pendelt, so wüßte das Gegenüber, daß von diesem Menschen nichts Positives zu erwarten wäre.
 
Susanne nahm hinter sich ein brodelndes, leise donnerndes Geräusch wahr, das sich verstärkte. Der Boden unter ihren Füßen fing dumpf an zu vibrieren. Sie rannte los. Wie sie es hasste neben der herannahenden Straßenbahn herzurennen, mit hechelndem Gesicht und auf und ab hüpfender Tasche darauf zu hoffen, daß sie die im Countdown piepende Tür noch früh genug erreichen möge. Mit ihrem geröteten Gesicht auf gleicher Höhe wie die sitzenden Bahninsassen verfluchte sie die Blöße, die sie sich gab und die die anderen bequem studieren konnten. Als die Tür sich mit einem letzten eindringlichen Piep gerade schließen wollte, stampfte sie ihren Fuß vor die Infrarotlampe. Auf Lichtschranken war Verlass. Die Tür zog sich ohne einen weiteren Ton zurück und gab ihr eine neue Schonfrist um einzutreten.
 
Das war leicht gesagt, die Tür quoll fast über von stehenden Menschen, die sich an den Halteschlaufen festhielten, und, in unterschiedlicher Höhe, versuchten möglichst uninteressiert geradeaus zu schauen. So nahm auch keiner wirklich Notiz von ihr. Nur die vordersten Drei versuchten nur wenig ambitioniert ein kleines bisschen nach links oder rechts zu drippeln, was ihnen jedoch lediglich dazu diente ihr soziales Gewissen zu beruhigen und nicht wirklich eine Verbesserung der Platzsituation mit sich brachte. Susanne holte tief Luft, stellte sich auf die Fußspitzen, legte ihre sich ausbreitenden Arme mit gebeugtem Oberkörper aneinander und stieß sich vom Boden ab. Langsam tauchte sie in die warme Luft der Straßenbahn ein. 
 
Während sie über den Köpfen der Fahrgäste hinwegschwebte, nahm sie deren Gerüche wahr. Wie unterschiedlich sie doch waren. Manche rochen gehetzt, andere strömten neben den Parfum-. und After-shave-Düften einen ganz zarten, sachten Körperdunst aus. Andere wiederum rochen abgestanden, nach Nikotin oder Alkohol oder einem seltsam-pudrigen, unangenehmen Eigengeruch, so tot wie eine längst vergangene und eigensinnig am Leben erhalten Mode. Diesen Geruch konnte sie kaum ertragen, er erinnerte sie an lebendig begraben sein, an Leblosigkeit und Verwesung. Dann nahm sie einen Dunst wahr, den sie liebte. 
 
Ein leicht verschwitztes Kindergesicht tauchte vor ihr auf, sachte senkte sie sich herab, hier wollte sie sich niederlassen. Sie setzte sich auf den Schoß des Kindes und das Kind fing an zu schreien. Einige Fahrgäste verdrehten die Augen, andere nahmen einen leicht stumpfsinnigen allzu ernsten Gesichtsausdruck an, den von Erwachsenen, die das Geplärre von Kleinkindern nicht ertragen können und auch nicht gewillt sind es zu ertragen. Das Kind beruhigte sich wieder und Susanne machte es sich bequem. 
 
Sie saß nun mit dem Kind zusammen im Kinderwagen, ihr Körper umschloss den Körper des kleinen Jungen. Sie spürte sein Herz schlagen und nahm seine kurzen Atemstöße wahr. Er drehte sein Gesicht nach oben, verrenkte sich fast seinen molligen Oberkörper, konnte sie aber nicht sehen. Dann drehte er sich mit einem resignierten Seufzer wieder herum und fing an, an seinem Stofftier zu zupfen. In dem Moment kam die Durchsage. Susanne hatte ihr Ziel erreicht. Sie rutschte vom Kinderwagen, glättete ein wenig ihre Kleidung, drängte sich durch die stehenden Insassen hindurch und trat aus der Bahn heraus. 
 
Sie ging neben der Bahn her, als diese anfuhr und verlor ihr Gleichgewicht. Gerade erst wieder materialisiert, also kaum zurück auf dem Boden der Tatsachen, wurde sie vom Luftzug der Bahn mitgerissen und landete mit einem unterdrückten Quieken auf den Gleisen. Nach einem kurzen Moment des Erstaunens kamen ein paar Leute zögernd näher. Ob sie Hilfe bräuchte? Sie solle sich beeilen, gleich käme die nächste Bahn. 
 
Ihr wurden Hände zum Hochziehen angeboten, aber Susanne verweigerte jede Hilfe. Trotzig stand sie da, mit gespreizten Beinen, auf dem Zwischenstück des Gleises. Am liebsten wäre sie einfach stehengeblieben, bis sich ihre Scham in Luft aufgelöst hätte. Sie kletterte zum Rand, zog sich hoch und sackte wieder zurück. Wie erbärmlich. Eben noch schwebend, war sie nun nicht einmal in der Lage sich einen Meter an einer Wand hochzuziehen. Dann hörte sie den herannahenden Zug. 
 
Ein junger Mann ging mit festen Schritten auf sie zu. Er fasste sie unter den Armen. Sie wollte gerade anfangen zu protestieren, als er mit einem zaghaften Lächeln meinte: „Nun kommen sie schon. Ich helfe Ihnen gern. Auch wenn sie das wahrscheinlich selber schaffen würden.“ „Was heisst hier wahrscheinlich? Ich kann schweben!“ „Ach, wirklich? Nun, das ist eine kostbare Fähigkeit, die man nicht an so gewöhnliche Orte wie diesen hier verschwenden sollte.“ „Sie glauben mir?“ „Natürlich, aber jetzt kommen sie erstmal hoch.“ Er zog sie auf die Füße. 
 
Wieder glättete Susanne ihre Kleidung, strich sich die Haare aus dem Gesicht und schaute auf. Der junge Mann war weg. Wo war er hin? Sie war perplex. So ein Mist, das war doch der beste Einstieg in einen perfekten Flirt gewesen: Junge Frau fällt hin, junger Mann eilt herbei und hilft ihr wieder auf die Füße. Zu schade. Susanne war trotzig und engstirnig, aber sie flirtete für ihr Leben gern. Sie schaute sich um. So schnell kann doch kein Mensch verschwinden. Außer natürlich, man will es mit all seiner Kraft. Und das wusste niemand besser als sie. Sie hob ihre Tasche vom Boden auf und ging zur Rolltreppe. Aber warum sollte er es plötzlich so eilig haben? Er hatte sie doch süß gefunden, das war offensichtlich gewesen...


HvvH`XX/01/06 - entstanden in Düsseldorf

Kurzgeschichte Nr.6 "Trost zur Nacht"

Es war nicht das erste Mal, daß sie sich fürchtete. Angst war ein ständiger Begleiter ihrer Kindheit gewesen. Nur jetzt war es anders. Sie war erwachsen. Zumindest hätte man das ihrem Alter nach annehmen müssen. Die Angst, die sie nun, von der Bauchgegend ausgehend, im ganzen Körper erfüllte, raubte ihr fast das Bewußtsein, ließ sie schwindeln und rüttelte an ihren Beinen, die nur allzu gerne nachgeben wollten. Aber sie hielt durch, atmete tief ein und versuchte diesen Moment irgendwie
zu überstehen.

Dabei war es so lächerlich. Nichts Konkretes war geschehen. Sie stand in ihrer Wohnung, im Wohnzimmer. Kerzengerade und mit hängenden Armen und wußte nicht weiter. Alles erschien ihr sinnlos und tot. Sie war sich ihrer eigenen Vergänglichkeit und dem Tod der Dinge viel zu sehr bewußt und konnte dieses Gefühl nicht vertreiben. Dieses Gefühl hatte sich in letzter Zeit des öfteren in ihre Gedanken geschlichen, jedoch noch nie mit einer solchen Wucht. Vielleicht wäre alles anders, wenn ich Kinder hätte, sagte sie sich. Kinder bringen Menschen dazu über ihre eigenen Kräfte zu gehen. Sie lenken einen von trübseligen Gedanken ab und führen einem stetes Leben und schnelles Wachstum vor Augen. Aber der bloße Gedanke an Kinder versetzte sie in Panik. Noch war sie in ihren eigenen Ängsten viel zu gefangen, schließlich konnte sie sich momentan nicht einmal vorstellen auch nur die kleinste Hürde, die der Alltag an sie stellte, zu bewältigen. In dem Moment ging das Licht aus.
 
Nacht umgab sie. Sie hielt die Luft an. Von solch einer tiefschwarzen dumpfen Dunkelheit war sie noch nie umgeben gewesen. Sie tastete sich zum Fenster und schaute hinaus, dorthin wo stets die Lichter der Großstadt geleuchtet hatten. Nichts. Ihre Hand suchte nach dem Sofa und als sie es fand legte sie sich hinein. Der Länge nach, noch mit Schuhen an den Füßen, und faltete ihre Hände auf dem Bauch. Ich liege da wie eine Tote, wie eine Tote. Dieser Gedanke fing in ihrem Kopf an zu kreisen. Sie hielt die Augen auf und versuchte etwas in der Dunkelheit zu erkennen, aber es schien unmöglich. Wie seltsam war doch dieses Schwarz. Es war durchwoben, wirkte wie ein Nebel, der bis in die Unendlichkeit zu reichen schien. Irgendwie beruhigend.
 
So stellte sie sich den Tod vor. Barmherzig und still. Doch das Leben war anders. Es forderte ständig, ließ einen nicht zur Ruhe kommen und behielt immer eine Tür des Zweifels auf, durch deren Schlitz grelles, erschreckendes Licht drang. Sie atmete tief durch. Und wenn es so bleiben würde? Wenn sie leben könnte und dennoch, anspruchslos wie eine Tote, von jeglichen Anforderungen des Lebens ausgespart bliebe? Gab es das überhaupt?
 
In dem Moment ging das Licht wieder an. Sie hielt sich die Hände vors Gesicht und schloss die Augen. Die Maschinerie der Stadt arbeitete weiter, liess sich durch kleine Aussetzer wie einen kurzen Stromausfall nicht aus der Ruhe bringen. Wie angenehm doch die Stille und tiefe Schwärze der Dunkelheit gewesen war. Nicht zu vergleichen mit dem diesigen Grau das in ihre geschlossenen Augen drang, an ihren Wimpern zupfte und versuchte bis in ihre Augenlider vorzudringen. Sie presste die Augen fest zusammen. Das Ergebnis war ein leuchtendes Rot, das regelrecht schmerzte. Es gab keine Hoffnung. Solange sie lebte, würde sie keine Ruhe haben. Sie drehte sich zur Seite und versuchte einzuschlafen. Sie merkte es nicht, aber sie schlief, ganz entgegen ihrer Erfahrung in letzter Zeit, schnell ein.
 
HvvH`XX/06/05 - entstanden in Düsseldorf

Kurzgeschichte Nr.4 "Die Ouvertüre"

Gestern hatte er sie gesehen. Nach so vielen Jahren das erste Mal. Und doch hatte es ihm nichts bedeutet, zu lange war es her... Wie gut, dass er sich weiterentwickelt hatte. Er war nicht mehr derselbe. Im Beruf erfolgreich, im Privatleben gut organisiert, und was seine innersten Wünsche und Triebe anging, so waren sie wohl verstaut im unaufgeräumten Keller seiner Erinnerung. Selten kamen sie an die Oberfläche seiner Existenz. Meist bei profanen Anlässen. Wenn er badete oder ein Gericht zubereitete. Wenn er einfach nur Mensch war, schweiften seine Gedanken ab. Zum Glück kochte er nur selten und beim Baden konnte man den inneren Gefühlen Einhalt gebieten indem man sich nicht gehen ließ, sich die Haare wusch, einseifte, abduschte, aus der Wanne heraustrat, abrieb und eincremte. Es gab genug zu tun. Dann hatte einen der Alltag wieder. Beim Kochen war man ohnehin sehr beschäftigt, dennoch kamen auch da hin und wieder kurze Gefühlsfetzen an die Oberfläche, die sich aber schon mit der nächsten Handlung wieder auflösten.

Dann kam das Paket. Ohne Absender. Es überraschte ihn, private Post in diesem Ausmaß zu bekommen. Als er es hoch in die Wohnung trug, fühlte er sich wie ein kleines Kind, das vom Weihnachtsmann beschenkt wurde. Als er schließlich oben ankam, konnte er es kaum mehr erwarten. Er versuchte es mit den Händen aufzureißen. Doch das erwies sich als schwierig, zu zäh hielt das Klebeband an seiner Umklammerung des Paketes fest. Als er seine Schlüssel zur Hilfe nahm, ging es schon besser, aber es war ihm immer noch zu langsam. Schon verschlechterte sich seine Laune. Mit einem Seufzer der Erleichterung öffnete er den Deckel. Zuerst sah er nur Papierschnipsel, und als er sie auseinander schob, konnte er ein Holzkästchen erkennen. Es wurde spannend. Er hob die Schatulle hoch, befreite sie von den letzten Schnippselresten und starrte sie an. Sie hatte kein Schloss und kein Schlüsselloch. 
 
Ohnehin hätte er keinen passenden Schlüssel dafür gehabt, denn auch der fehlte. Er wusste nicht, was er tun sollte. Dann fiel ihm der orientalische Händler ein, der ihm damals im fernen Marokko mit Begeisterung ein ganz ähnliches Holzkästchen vorgeführt hatte. Martin wusste also, es gab eine Lösung. Er suchte und schaute, strich die Holzplättchen mit den Fingerkuppen ab und zog an allen Erhebungen. Schließlich fand er, was er suchte, ein lockeres Stück Holz. Als er es behutsam herauszog, fiel ihm der Schlüssel regelrecht in die geöffnete Hand. Nach weiteren zehn Minuten hatte Martin auch das Schlüsselloch entdeckt. Dann war es soweit. Er öffnete die Schatulle.
 
Zuerst sah er nur Watte. Als er daran zupfte, hob sich die oberste Schicht und löste sich wie eine Wolke. Er legte sie beiseite. Dann sah er Klopapier, das um einen kleinen Gegenstand herumgewickelt war. Er hob ihn hoch und wickelte ihn, von Neugierde geplagt, frei. In seiner Hand lag ein Taubenküken. Sein Atem ging schnell, der zerrupfte Körper hechelte vor Angst oder Atemnot oder beidem, wobei es Martin, der entsetzt und angeekelt war, ein Rätsel war, wie das Küken in der Schatulle hatte überleben können. Was für eine Tierquälerei! Was sollte er damit? Was für eine perverse, unsinnige Post! Dann entdeckte er das Halskettchen, halb verdeckt von den großporigen, mit verklebten Federn bedeckten Hautfalten. Behutsam drehte er das angstvolle Etwas auf die andere Seite. Sein Verdacht hatte sich bestätigt. Die Kette trug ein Silberplättchen mit eingraviertem Schriftzug. Die Schrift war nur schwer zu entziffern. Sie war sehr ornamental, voller Schnörkel und Verzierungen. Das Kettchen trug den Namen „Miriam“. Martin lehnte sich zurück, rutschte mit dem Körper an der Sofaseite herunter und atmete tief durch. 
 
Wie gerne hätte er sich jetzt den Gedanken an sie hingegeben, jetzt, da sie mit solch einer fragwürdigen Eindringlichkeit wieder in sein Leben getreten war. Doch das kleine Lebewesen in seiner Hand war nun einmal in seiner Obhut. Irgendetwas musste er tun. Er ging zum Telefon und wählte die Nummer der Auskunft. Zwei Stunden später, es hatte etwas länger gedauert, denn er hatte erst noch zu Abend gegessen, stand er im Büro des Tierheimes. 
 
Der Angestellte betrachtete das Küken in der Schuhschachtel kopfschüttelnd. „Und Sie sagen es ist Ihnen mit der Post zugesendet worden? „Ja.“ „Aber von wem? War denn sonst nichts in der Schachtel?“ „Nein nichts. Hören Sie, was werden Sie nun mit dem Küken machen?“ „Nun, Tauben fallen normalerweise nicht in unseren Verantwortungsbereich. Es gibt einfach zu viele von Ihnen. Wo kämen wir denn hin, wenn wir jedes heruntergefallene Küken, jede angefahrene oder einbeinige Taube bei uns aufnehmen würden. Wenn ich ehrlich bin, nehme ich mich des Kükens nur an, weil ich es mir nach ihrer absurden Geschichte mal mit eigenen Augen anschauen wollte. Nun, wir werden es durchfüttern und bei Zeiten aussetzen...Und Sie haben wirklich keine Ahnung von wem diese perverse Post stammt?“ „Nein. Haben Sie jedenfalls vielen Dank“ Nach einem kurzen Zögern gab Martin dem Tierpfleger die Hand, der sie mit ungewohnt rauhem Händeschütteln erwiderte. „Keine Ursache. Und falls sie noch mal Post bekommen, stets zu Diensten. Aber nur bis zu einer gewissen Größe, versteht sich!“ Lachend klopfte er sich auf die Schenkel und murmelte ein leises „Mann, oh Mann...“ in seinen Bart. 
 
Martin fuhr nach Hause. Während der Fahrt merkte er das Wut in ihm hochstieg. Abfällige, eiskalte Wut. Es war krank! Was auch immer ihm Miriam mit dieser Post hatte sagen wollen, sie war eindeutig zu weit gegangen. Auf Kosten jungen, hilflosen Lebens. Er wollte sich erst gar nicht mit der platten metaphorischen Ebene dieser Nachricht auseinandersetzen. Es interessierte ihn nicht im Geringsten. Sie hatte eine Grenze überschritten und sich damit selbst ins Aus manövriert. Sollte sie doch sehen, wo sie blieb. Auf normale Post oder einen netten Anruf hätte er vielleicht reagiert. Aber auf so etwas! Was sollte man dazu sagen? Da bekam man es ja mit der Angst zu tun... Als er zu Hause ankam, räumte er als erstes alle Spuren seines unfreiwilligen Besuchers weg. Er schmiss alles, auch die Schatulle in den Müll. Als er die letzten Papierfetzen gerade wegwerfen wollte, fiel ihm etwas auf. Es waren Schnipsel aus einem Papier Schredder. Und diese Schnipsel waren hand beschrieben worden. Ein seltsames Gefühl bestieg ihn. Eine fast vergessene Erinnerung kam in ihm hoch. Er hatte ihr Briefe geschrieben. Mit der Erinnerung überkam ihn ein Übelkeit erregendes Schamgefühl. Ja, er hatte ihr Briefe geschrieben. Rücksichtlose, egoistische Liebesbriefe ohne Einhalt. Fast wie eine Sucht war es gewesen. Dieses Bedürfnis von ihr wahrgenommen zu werden, dieser Schmerz, der Sehnsucht nach ihrer Aufmerksamkeit verfallen zu sein. Nun, das war lange vergangen. Er hatte sich schließlich wieder eingekriegt. 
 
Er stopfte die letzten Schnipsel in die Tonne, entfernte gehetzt mit der anderen Hand die an seiner Rechten hängen gebliebenen Reste, so als würde es sich um widerliche Tentakeln einer giftigen Krake handeln. Schließlich war der Deckel zu. Morgen würde er den Sack runter bringen, am Mittwoch würde die Müllabfuhr kommen und dann wären all die unangenehmen Gedanken, Erinnerungen und Fragen aus seinem Leben entfernt. Jetzt musste er damit leben, aber bald schon würden sie verblassen, und falls sie kein neues Futter bekämen, würde er sie in Kürze los sein.
 
Als er ins Bad ging und den Wasserhahn aufdrehte, kam ihm ein schöner Gedanke. Er würde sich einen Wellensittich anschaffen. Die Idee war ihm im Tierheim gekommen, als er das Taubenküken abgegeben hatte. Ein Wellensittich war dazu geschaffen, seinen Besitzer zu beglücken. Er würde putzig aussehen, wäre leicht zu halten und würde einen durch sein Gezwitscher erfreuen. In einem hübschen, sauberen Käfig wäre er schön anzusehen. Und falls er nach ein paar Jahren sterben würde, könnte man sich einfach einen neuen kaufen. Ohne viel Gefühlsaufwand. Ja, das war ein guter Plan.
 
HvvH`XX/04/2005 - entstanden in Düsseldorf

Kurzgeschichte Nr.5 "Die Natur des Menschen"

Immer, wenn es regnete, verstummte seine Sprache. Sein Mund öffnete sich schwer, die Mundwinkel zeigten beständig nach unten und aus seinem Rachen kamen nur noch seltsame Laute. Laute, die ein Tier wohl eher verstehen würde als der Mensch. Dieser reagierte dann auch sehr verstört, gab sich jedoch kaum Mühe dies zu verheimlichen. Fragend wurde er angesehen, offen wurde über ihn gelacht. Mitleidig wurde ihm die Schulter gedrückt, und einhellig hieß es: „Alles klar? Geht’s dir auch
gut?“ Wie sehr er das hasste. Aber auch von den Tieren konnte man nicht viel erwarten. Seine Katze verstand, dass er ein Problem mit sich hatte und verließ ihn für ein paar Tage. Andere Tiere gab es nicht in seinem Umfeld. Ein Pferd wäre ihm sicher ein guter Kamerad gewesen. Er besaß jedoch keins. Also machte er Sprechübungen. Lächerliche Aas und Oos presste er unter Mühe heraus und wollte doch nur jammern. Knurren fiel ihm nicht schwer, Stöhnen bereitete ihm Erleichterung. Lautes Aufheulen musste er der Nachbarn wegen unterdrücken. Manchmal dauerte der Regen wochenlang, schwoll an zu lauten Stürmen und ebbte in leichten Niesel ab. Dann saß Rolf am Fenster und studierte das Wasser. Wie es gegen die Scheibe trommelte, stumm hinunter rann und sich gemächlich wieder zusammenfand. Er mochte es, wenn einzelne Tropfen zufällig aufeinander stießen und schon bei der ersten kleinen Berührung miteinander verschmolzen. Wie leicht es doch schien.

Eines Tages erblickte er hinter der Scheibe etwas Wundervolles. Draußen im Innenhof hatte sich eine Blume niedergelassen. Das mag seltsam klingen, aber Blumen kommen schließlich als Samen, ähnlich einem Ufo regelrecht hernieder. Die anderen Möglichkeiten, dass sie als Dreck am Schuh beim Müll-raus-tragen, oder als Kotbestandteil seiner Katze ihren Weg in den Innenhof gefunden hatte, wollte er nicht in Betracht ziehen. Vielleicht aber war sie auch schon immer da gewesen, unter dem Asphalt in der dunklen Erde. Warum nur fing sie jetzt an zu wachsen? Es war kein Platz für eine Blume im Hof. Alles war grau, vom Kot der Tauben besudelt, die einzigen Besucher waren die Müllmänner, die jeden Mittwoch mit lautem Gepolter kamen und wieder verschwanden. Was war es nur, was sie angezogen hatte? Rolf fragte sich, ob sie ihm zuliebe gekommen war. Konnte es sein? War sie seine Blume? Würde sie allein für ihn blühen? Eifersüchtig stierte er zu den Nachbarsfenstern hoch. Gab es noch andere Bewunderer? Vorerst nicht. Halbwegs entspannt ließ er sich in den Sessel zurückfallen.

Die Blume wuchs von Tag zu Tag. Der Regen ließ nach und Rolfs Sprache kehrte wieder zu ihm zurück. Jeden Tag saß er am Fenster und begleitete die Blume auf ihrem beschwerlichen Weg hinaus aus der Asphaltritze ins Sonnenlicht. Hätte sie sprechen können, sie hätte ihm gesagt, dass er sich irrte, dass sie keine Blume war und nie sein würde. Doch selbst wenn sie es ihm hätte sagen können, Rolf hätte es nicht gehört. Zu dick war die Glasscheibe zwischen ihnen. Eine Wand die ihm Sicherheit zu verschaffen schien, eine Distanz, die er nie zu überbrücken die Lust verspürte. Er starrte sie immerzu an, kam jedoch nicht mal auf den Gedanken sie in ihrer Welt zu besuchen. Ängstlich war er darauf bedacht die Glasscheibe sauber zu halten, immerzu wischte er mit dem Ärmel die kleinste graue Schliere auf der Scheibe fort. Dann existierte für ihn keine Trennung. Doch das war ein Irrtum. Er vernahm keinen Lufthauch, spürte die Sonne nicht ungehindert seine Haut erwärmen, hörte nicht das leise Rascheln der Blätter. All die Dinge, die die kleine Pflanze um sich herum tagtäglich erlebte, die Teil ihres Seins waren, so wie ihr grüner Stengel und die kleinen, schweren Blätter. Hätte sie ihn sehen können, es hätte seltsam ausgesehen und sie zum Schmunzeln angeregt. Wie er dort saß. Im Dunkeln des Fensters. Mit großen Augen und einem unentschiedenen Zug um die Mundwinkel, halb Lächeln, halb Qual. Langsam ahnte auch er die Wahrheit, doch wollte er sich den Irrtum nicht eingestehen, zu schön war die Vorstellung einer Blume. Zart war sie, empfindsam und verletzlich, das konnte er sehen. Nur trieb sie keine Knospen. Stattdessen verhärtete sich langsam ihr grüner Stiel, den wagen Übergang vom hellen Grün ins noch undefinierte Braun konnte er sogar auf diese Entfernung erkennen. Doch tapfer harrte er aus. Es war noch nichts entschieden. Auch unter den Blumen gab es besondere Exemplare, kraftvollere Formen. Diese hatten meist besonders schöne Blüten, exotische, farbintensive, strahlende Gebilde. Für diesen Anblick wäre er bereit gewesen über die verhärteten, unempfindlicheren Eigenschaften hinwegzusehen. 
 
Dann kam der Regen. Und mit ihm verlor sich Rolf`s Sprachschatz erneut. Der Regen dauerte Tage, Wochen und Rolf vereinsamte zutiefst. Er verkroch sich in seiner Wohnung, mied jeden Kontakt mit der Außenwelt und wollte nur noch allein sein. Allein mit seiner Blume. Sie schien trotz ihrer offensichtlicheren Abhängigkeit von Wind und Wetter dagegen viel unempfindlicher zu sein als er. Er hatte schon daran gedacht ihr einen Unterschlupf zu bauen, ja dafür wäre er bereit gewesen zu ihr hinüber zu gehen, aber sie trotzte den Unbilden des Wetters , schien noch gestärkter daraus hervorzugehen. Sie streckte ihre Blätter in alle Richtungen und wuchs zu einer stattlichen Pflanze heran. Immer noch ohne jedes Anzeichen einer Blüte. Vielleicht würde sie niemals blühen. Vielleicht war sie nur ein dummes Gestrüpp, Unkraut, Grünzeug. Rolf wand sich angewidert ab und schämte sich seiner in sie investierten Gefühle zutiefst. Er verkroch sich ins Innere seiner Wohnung und senkte seine Nase tief in die Massen von Büchern, die er im Laufe der Zeit bei Haushaltsauflösungen auf den Straßen gesammelt hatte. 
 
Ihm war es egal was er las. Schnulzenromane, pseudowissenschaftliche Historienschinken, die dermaßen von ihrer Entstehungszeit geprägt waren, das es schon fast weh tat, oder Sachbücher, die sich mit solch speziellen Themen befassten, das es eigentlich reine Zeitverschwendung war sich mit ihnen zu befassen. Rolf war es gleich. Es erschien ihm ohnehin alles derart sinnlos, dass er keine Lust verspürte zwischen sinnlos und sinnhaft zu unterscheiden. Es tat ihm gut sich mit der Sprache der Menschen zu umgeben, wenn er selbst ihrer schon nicht mehr mächtig war. Er seufzte laut und schielte zum Fenster hinüber. Von seiner niedrigen Sitzposition aus konnte er nicht annähernd in den Garten einsehen. Ihm war es gleich. Sollte die Grünpflanze doch mit sich selbst klarkommen. Er hatte sich geirrt, war von anderen Vorraussetzungen ausgegangen und fühlte sich nicht weiter verpflichtet. So gingen die Jahre dahin. Der Regen ebbte ab und schwoll wieder an, ebbte ab und schwoll an. Rolf ertrug seine unerklärliche Abhängigkeit von ihm demutsvoll, als wäre es eine Buße die er zu tragen verpflichtet sei. In all der Zeit hatte er kein einziges Mal den konkreten Blick aus dem Fenster gewagt, sondern hatte sich Tagträumen hingegeben, wie die Pflanze brutal hinweggespült, und an ihrer Statt das Zarte, ja Zärtliche sich einnisten würde.
 
Eines Tages fiel ein Schatten in sein Zimmer. Schmal erst, aber nicht zu übersehen. Rolf war überrascht. Er rannte zum Fenster, blickte zur Seite, dort wo früher die vermeintliche Blume gestanden hatte und erblickte, noch voll naiver Ungläubigkeit, einen Baum. Er war entsetzt. Hatte er früher noch seinen Beschützerinstinkt an der kleinen Pflanze laben können, so fühlte er sich nun von dem daraus erwachsenen Baum regelrecht bedroht. Hätte er sie doch bloß herausgerissen als noch Zeit dazu war. Nun war alles zu spät. Jeden Tag würde der Schatten des Ungetüms nun in sein Zimmer fallen. Vorbei die Zeiten als er so tun konnte als existiere die grüne Missbildung gar nicht. Der Baum war stark, seine Stamm ragte bereits mit einem gehörigen Durchmesser aus der Erde. Er hätte sich die Finger daran schmutzig gemacht, hätte er ihn mühsam entfernt. Das kam für ihn nicht ihn Frage. Der Baum existierte nun mal, also musste er, um nicht tagtäglich an seine eigenen trotteligen Gefühle von damals erinnert zu werden, Verzicht üben. Hauptsache, er hatte wieder Ruhe. Also schob Rolf den schweren Vorhang, den er von seiner Großmutter geerbt hatte zu, und öffnete ihn Zeit seines Lebens, denn die verbrachte er in jener kleinen Junggesellenwohnung, nicht mehr. Rolf vergaß den Baum. Ohnehin hatte er genug damit zu kämpfen, das seine Sprachprobleme von Tag zu Tag schlimmer wurden. Sie traten nun auch bei schönem Wetter zutage und würden ihn nie mehr verlassen. Er vereinsamte zusehendst. 
 
Am Anfang versuchte er noch zu trainieren. Er machte wieder seine Sprechübungen, las so viel er nur konnte und versuchte trotz seiner mangelhaften Ausdrucksweise mit anderen Menschen zu kommunizieren. Eines Tages gab er auf. Ab jetzt würde nur noch Stöhnen, Knurren und Heulen seinen Mund verlassen. Geräusche deren er sich zutiefst schämte. Er ging nicht mehr unter Menschen, verließ nie mehr das Haus. Alles, was er zum Leben brauchte, bestellte er sich über Kataloge, und selbst die Zahlungen fanden nicht bar über die Hand sondern über das Internet statt. So brauchte er zwar das kleine Erbe seiner Großtante konsequent, innerhalb weniger Jahre auf, das machte jedoch nichts, denn noch bevor es sich gänzlich auflöste, zog Rolf es vor zu sterben. Mit einem lauten, knurrenden Heulton, dem einzigen, den sich Rolf trotz der Nachbarn je erlaubte, verließ er die Welt der Lebenden und erwachte nicht mehr. Als die Entrümpler in die Wohnung eindrangen um Ordnung zu schaffen und alles Alte, Unnütze auszumisten, und sich alles Brauchbare wie immer unter den Nagel zu reißen, öffnete einer von Ihnen, ein junger tumber Kerl, den Vorhang, um ihn an der Seite heruntergleiten zu lassen und ihn in die Mülltüte zu packen. Dabei fiel sein Blick hinaus in den Hof.
 
Wenn der Baum Augen gehabt hätte, nie hätte er den leicht idiotischen aber unendlich bewundernden Gesichtsausdruck vergessen, mit dem ihn dieser Mann mit offenem Mund aus dem dunkel verschmierten Fensterrahmen anstarrte. Und zu der Leichtigkeit mit der er seine tausend Blüten trug, wäre wohl doch noch ein wenig Stolz hinzugekommen.
 
HvvH`14/04/05 - entstanden in Düsseldorf

Kurzgeschichte Nr.3 "Trotz hinter Stahl"

„Erst einmal fühlen, nur fühlen“, dachte Sebastian und versuchte sich zu konzentrieren. Okay, es fühlte sich rau an, fast ein wenig schuppig. Dafür aber warm, richtig gut durchblutet. Und es pochte wild. Der Puls strömte unter der Haut wie ein reißender Wildbach, der in den Kurven anschwillt und ständig in Gefahr ist über die Stränge zu schlagen. Und die Härchen, nein die Härchen waren herzallerliebst! Wenn er sich jetzt noch die Farbe der Haut dazu ausmalte, dann war es komplett. Sein Alien. Wie es im Buche stand. Und doch war alles nur ein Traum. Er wusste, wenn er jetzt versuchen würde die Augen zu öffnen, würden die Traumbilder wie geplatzte rohe Eier durch seine Finger gleiten und er müsste wieder eine Nacht warten, oder zwei, oder drei. Schon zu oft hatte er es versucht, und diesmal würde er sich mit dem zufrieden geben, was der Traum zuließ. Also, Hand ausgestreckt in die stählerne Öffnung halten und fühlen. 
 
Plötzlich bewegte sich der Körper und seine Finger glitten ohne es zu wollen etwa eine Handbreit weiter nach unten. Hier fühlte sich der Körper anders an. Zerfurchter, mit warzenähnlichen Erhöhungen und auch die Haare waren länger und schienen fast miteinander verklebt zu sein. Trotz seines persönlichen menschlichen Erfahrungsschatzes war es natürlich nur eine Vermutung das er nun den Genitalbereich des Alien erreicht hatte. Was sollte er jetzt tun? Wenn er die Hand wegziehen würde, wäre das Alien womöglich beleidigt. Aber nein, es war ja bloß geträumt, das Alien war ein phantastisches Gebilde seiner Gedanken und hätte keinen Grund gehabt beleidigt zu sein. Nun, wenn es irreal war, so konnte ihm auch nichts passieren wenn er die Hand ließe wo sie nun mal war. 
 
In dem Moment schob sich der Körper ein wenig nach vorne, schien ihn geradezu zu bedrängen . Auch die Hautfurchen zitterten leicht. Aus den warzenähnlichen Drüsen drang ein glitschiges Sekret. Sein Alien war erregt, oh Gott, wegen ihm! Wie hatte er das geschafft? Fast war er ein wenig stolz und dieser Stolz schlug doch glatt in eigene Erregung um. Natürlich nichts Körperliches, eher etwas Vergeistigtes, denn schließlich turnte ihn die widerwärtige Geschlechtlichkeit seines wundervollen Traum-Aliens eher ab. Daß das aber auch ein Weibchen sein musste! Wäre es ein Männchen gewesen, wäre alles viel sachlicher, wenn nicht gar seriös wissenschaftlich abgegangen. Er hätte die Muskelstränge des Aliens abgetastet, das Reaktionsvermögen getestet und vielleicht sogar ein paar Intelligenztests, wenn auch unter erschwerten Bedingungen, mit ihm gemacht. Und jetzt so was! 
 
Die Warzen schwollen langsam an. Seine Hand war mittlerweile ganz eingesudelt von dem Zeug. Es kostete ihn viel Überwindung sie nicht zurückzuziehen. Schon merkte er, das seine Konzentration im Traum schwächer wurde und er in Gefahr war aufzuwachen. Das wollte er auf keinen Fall. Wer wusste schon wann er wieder von einem Alien träumen würde? Vielleicht war dies das letzte Mal! Also Augen zu und durch... Vorsichtig strich er mit der Hand die Furchen entlang, glitt mit den Fingerspitzen in die kleinen Täler und versuchte mit der Hand ganz leichten Druck auszuüben. Das Gewebe schwoll an und zum ersten mal vernahm er ein leichtes Brummen aus dem außerirdischen Körper. 
 
Da wurde ihm in seinem wissenschaftlichen Eifer mit einem Schlag klar, was er da eigentlich tat. Er war dabei ein Alien sexuell zu befriedigen!! Und das allein aus Angst ihn zu verlieren! Wissenschaftliches Interesse hin oder her, das ging zu weit. Er wollte aufwachen, auf der Stelle! Ihm war jetzt alles egal. Das, was er da gerade geträumt hatte, konnte man keinem erzählen, die hätten ihn alle für notgeil gehalten, für Alien-notgeil! 
 
In dem Moment wurde seine Hand verschluckt. Er riss die Augen auf, aber noch bevor er etwas im Halbdunkel erkennen konnte wurde sie wieder ausgespuckt. Die Stahltür wurde von innen zugeschlagen, und mit lautem Rumpeln entfernte sich das Alien ins Inneren des Raumschiffes. Er starrte auf seine Hand. Sie war mit einem silbernen Film überzogen, in dem feine Äderchen schimmerten. Die Hand selbst konnte er bewegen. Sie war nicht gequetscht worden. Von was auch immer sie verschluckt worden war, es verstand sein Handwerk und war zugleich flink und behutsam vorgegangen. Langsam löste seine Hand sich in Nebel auf und er erwachte. 
 
In dem Moment fing der Wecker an zu klingeln. Er streckte seinen Körper, zog den Arm unter der Bettdecke hervor und tastete nach der schrillenden Maschine. Ungeschickt rutschte er daran ab und stieß den Wecker vom Nachttisch. Er fiel laut plärrend hinunter, prallte auf und verstummte. Auch eine Möglichkeit ihn zum Schweigen zu bringen, dachte er, drehte sich herum und schlief weiter.

HvvH`30/03/05 - entstanden in Düsseldorf

Kurzgeschichte Nr.2 "Der Blick zurück"

So als hätte sie es unbewusst geahnt, fing es genau in dem Moment, als sie das Kaufhaus betrat, heftig an zu stürmen. Während der Regen mit lautem Geprassel hinter ihrem Rücken hin und herpeitschte, wurde sie im Eingangsbereich des Jugendstilgebäudes von warmer, surrender Luft umhüllt. „Was tue ich eigentlich hier?“, fragte sie sich. „Mir fehlt es schließlich an nichts...“ Langsam schritt sie auf die Rolltreppe zu und trat auf die auftauchenden, sich unaufhaltsam neu aufbauenden Stufen. Sie legte ihre Hand auf die ruckelnd dahin gleitende Gummireling und schaute sich um. Ihr fehlte es an nichts... Ein wahrer Satz. Nichts, was ihr bewusst wäre oder zumindest nichts, was man käuflich erwerben könnte. Oder doch? Gerade noch rechtzeitig bemerkte sie, das sie am Ende angelangt und die Rolltreppe wieder dabei war im Unbekannten zu verschwinden. Sie machte einen kleinen Satz mit ihren zarten Riemchenpumps und fand gerade noch festen Boden unter den Füßen. Augenblicklich blieb sie stehen. Sie hatte ihn gesehen...
 
Murrende Passanten drängelten sich an ihr vorbei, stießen sie hin und her, doch von all dem völlig unberührt, starrte sie nur stumm zu ihm hin. Zu Ihm, dem Unvergessenen, dem Ewigerinnerten, dem allzeit Bereiten. Dem Behüter und Tröster. Er war natürlich nicht derselbe, wahrscheinlich existierte das Originalmodell nicht mehr. Aber er sah zumindest genau so aus. Nach all den Jahren fiel ihr auf wie extravagant allein schon seine äußere Form war, ganz abgesehen von den feinen, schwungvollen Details. Das war er und würde es ewig sein, ihr Kinderwagen! 
 
Langsam schritt sie auf ihn zu. Wie er im Kunstlicht glänzte! Wie geschmeidig seine wohltuenden Rundungen angelegt waren. Schritt für Schritt kam sie ihm näher und wurde Schritt für Schritt kleiner. Sie selbst nahm das natürlich etwas differenzierter wahr. Der Kinderwagen wuchs vor ihren Augen lediglich zu der stattlichen Größe heran, die er einst, zumindest in ihren Augen besessen hatte. Und war dies nicht ein anerkanntes Gesetz der Physik, das die Dinge, je näher sie kamen, umso größer wurden? Jetzt war er schon größer als sie. Nun gut, dann war seine Größe eben immer ein wenig ihrer eigenen aktuellen Größe überlegen, existierte sozusagen allein in Relation zu ihr. Kaum hatte sie ihn erreicht, da erkannte sie auch schon das Problem. Es war keine Mutter mehr da, die sie hätte hineinlegen können. Zumindest keine Mutter in passender Größe. Nun, immerhin hatte sie Laufen gelernt, und zum Klettern würde das allemal genügen. Sie legte die Hände an die Eisenstangen und zog sich langsam hoch. Der Kinderwagen fing bedrohlich an zu schwanken. Als sie die Füße aufsetzte und mit den Spitzen der Schuhe Halt suchte, ging es schon viel besser. Als sie dann auch noch die erste Hand über den Rand des Schlafkorbes legte, wusste sie, das sie es schaffen würde. Sie zog sich Stückchen für Stückchen höher, legte die andere Hand nach, hievte den Körper bis zur Taille hoch und plumpste mit einem Rutsch in die weichen Kissen. War das ein herrliches Gefühl! Schnell robbte sie nach vorn, griff nach dem Zipfel der Decke, legte sie flink um und tauchte mit ihrem Körper unter den Daunenberg. Mit einer geschickten Verrenkung des Körpers langte sie nach ihren Pumps und warf sie hoch in die Luft davon. Jetzt noch das Kopfkissen ein wenig zurechtrücken, und fertig war der Fahrschein in die Glückseligkeit. 
 
Da gab es einen heftigen Ruck und als sie die Augen öffnete sah sie zu ihrem Entsetzen einen riesigen Mann, der vorn übergebeugt in ihre Augen schaute. Er lächelte sie an, drehte den Kopf zur Seite und sagte:“ Den nehme ich. Kostet die Puppe extra?“ Gwendolyn wollte protestieren, kriegte aber keinen Laut heraus, sie wollte aufstehen, konnte sich aber nicht bewegen. Eine Frau kam dazu, schaute gelangweilt auf Gwen herab und meinte nur: „Die hat sicher ein Kind hier hineingelegt. Na ja, die Kleine wird schon gewusst haben, wo sich ihre Puppe am wohlsten fühlt. Ich würde sagen, bevor Sie sie beim Fundbüro abgeben und daraus was Herrenloses wird, nehmen Sie sie besser mit.“ Der Mann lächelte, legte seine beiden Hände um die Eisenstange, und der Kinderwagen setzte sich in Bewegung.
 
HvvH`29/03/05 - entstanden in Düsseldorf

Kurzgeschichte Nr.1 "Die Erde ruht"

„Hast du das gesehen?“, fragte der Bauer seinen Sohn. „Nein, Vater, was..?“. „Dort drüben, am Waldrand war etwas, ein seltsames Leuchten...“ Er starrte zu der Stelle rüber, die gräulich im Mondschein vor sich hindämmerte und je länger er schaute, desto dunkler und unschärfer wurde sie. Schließlich richtete er sich stolz auf, hob seine Harke hoch über den Kopf und stieß sie kraftvoll in die feuchte Erde hinein. In diesem Moment erblickte auch sein Sohn das seltsame Licht. Nicht am Waldrand war es, sondern in der Mitte des Feldes, das sie beide gerade bewässerten. Er sagte dem Vater nichts, beobachtete ihn nur ängstlich von der Seite, ob er es vielleicht auch erkannt hätte. Doch nichts geschah. Sein Vater plagte sich mit der Erde ab, fluchte, trat in den Schlamm, und löste Brocken für Brocken um ihn in den Kanal zu rollen. Schließlich war der Damm fertig, das Wasser floss in den Seitenarm und verschwand im Dunkeln der Nacht.

Das Licht war immer noch da. Sein Vater, der mit dem Rücken zum Feld stand, und sich die Hände an einem alten Lappen abtrocknete, hielt den Blick gesenkt, runzelte plötzlich die Stirn und fing mit sehr ernster Stimme an zu sprechen. Dabei schaute er seinem Sohn direkt in die Augen. „Wenn du dieses Licht jemals mit eigenen Augen sehen solltest, dann gib mir darüber Bescheid. Hast du gehört?“ Der Junge, dessen Blick zwischen den tiefschwarzen, brennenden Augen seines Vaters und dem silbrigen, pulsierenden Leuchten auf dem Felde hin und herging, sagte nur: “Ja, Vater.“ Er kannte seinen Vater gut genug um zu wissen, das er auf seine Fragen keine Antwort bekommen hätte.
 
HvvH`16/03/05 - entstanden in Düsseldorf

Kurzgeschichte Nr.14 "Das, was bleibt..."

Er schaffte den Weg nachhause nicht mehr... Sein Rollator polterte - immer wieder festklemmend - über das unebene Kopfsteinpflaster und Dona...