Freitag, 9. Dezember 2022

Kurzgeschichte Nr.6 "Trost zur Nacht"

Es war nicht das erste Mal, daß sie sich fürchtete. Angst war ein ständiger Begleiter ihrer Kindheit gewesen. Nur jetzt war es anders. Sie war erwachsen. Zumindest hätte man das ihrem Alter nach annehmen müssen. Die Angst, die sie nun, von der Bauchgegend ausgehend, im ganzen Körper erfüllte, raubte ihr fast das Bewußtsein, ließ sie schwindeln und rüttelte an ihren Beinen, die nur allzu gerne nachgeben wollten. Aber sie hielt durch, atmete tief ein und versuchte diesen Moment irgendwie
zu überstehen.

Dabei war es so lächerlich. Nichts Konkretes war geschehen. Sie stand in ihrer Wohnung, im Wohnzimmer. Kerzengerade und mit hängenden Armen und wußte nicht weiter. Alles erschien ihr sinnlos und tot. Sie war sich ihrer eigenen Vergänglichkeit und dem Tod der Dinge viel zu sehr bewußt und konnte dieses Gefühl nicht vertreiben. Dieses Gefühl hatte sich in letzter Zeit des öfteren in ihre Gedanken geschlichen, jedoch noch nie mit einer solchen Wucht. Vielleicht wäre alles anders, wenn ich Kinder hätte, sagte sie sich. Kinder bringen Menschen dazu über ihre eigenen Kräfte zu gehen. Sie lenken einen von trübseligen Gedanken ab und führen einem stetes Leben und schnelles Wachstum vor Augen. Aber der bloße Gedanke an Kinder versetzte sie in Panik. Noch war sie in ihren eigenen Ängsten viel zu gefangen, schließlich konnte sie sich momentan nicht einmal vorstellen auch nur die kleinste Hürde, die der Alltag an sie stellte, zu bewältigen. In dem Moment ging das Licht aus.
 
Nacht umgab sie. Sie hielt die Luft an. Von solch einer tiefschwarzen dumpfen Dunkelheit war sie noch nie umgeben gewesen. Sie tastete sich zum Fenster und schaute hinaus, dorthin wo stets die Lichter der Großstadt geleuchtet hatten. Nichts. Ihre Hand suchte nach dem Sofa und als sie es fand legte sie sich hinein. Der Länge nach, noch mit Schuhen an den Füßen, und faltete ihre Hände auf dem Bauch. Ich liege da wie eine Tote, wie eine Tote. Dieser Gedanke fing in ihrem Kopf an zu kreisen. Sie hielt die Augen auf und versuchte etwas in der Dunkelheit zu erkennen, aber es schien unmöglich. Wie seltsam war doch dieses Schwarz. Es war durchwoben, wirkte wie ein Nebel, der bis in die Unendlichkeit zu reichen schien. Irgendwie beruhigend.
 
So stellte sie sich den Tod vor. Barmherzig und still. Doch das Leben war anders. Es forderte ständig, ließ einen nicht zur Ruhe kommen und behielt immer eine Tür des Zweifels auf, durch deren Schlitz grelles, erschreckendes Licht drang. Sie atmete tief durch. Und wenn es so bleiben würde? Wenn sie leben könnte und dennoch, anspruchslos wie eine Tote, von jeglichen Anforderungen des Lebens ausgespart bliebe? Gab es das überhaupt?
 
In dem Moment ging das Licht wieder an. Sie hielt sich die Hände vors Gesicht und schloss die Augen. Die Maschinerie der Stadt arbeitete weiter, liess sich durch kleine Aussetzer wie einen kurzen Stromausfall nicht aus der Ruhe bringen. Wie angenehm doch die Stille und tiefe Schwärze der Dunkelheit gewesen war. Nicht zu vergleichen mit dem diesigen Grau das in ihre geschlossenen Augen drang, an ihren Wimpern zupfte und versuchte bis in ihre Augenlider vorzudringen. Sie presste die Augen fest zusammen. Das Ergebnis war ein leuchtendes Rot, das regelrecht schmerzte. Es gab keine Hoffnung. Solange sie lebte, würde sie keine Ruhe haben. Sie drehte sich zur Seite und versuchte einzuschlafen. Sie merkte es nicht, aber sie schlief, ganz entgegen ihrer Erfahrung in letzter Zeit, schnell ein.
 
HvvH`XX/06/05 - entstanden in Düsseldorf

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