Freitag, 9. Dezember 2022

Kurzgeschichte Nr.8 "(ohne Titel)"

Übel war ihr. Nicht so sehr im Magenbereich, vielmehr im Kopf. Sie spürte förmlich die Maschinerie hinter ihrer Stirn arbeiten, immer und immer wieder in derselben Prozedur. Sie atmete die kalte Luft tief ein und es wurde ihr besser. Langsam legte sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Erinnerungen wollten in ihr Bewusstsein, keine schönen, aber durch die Ferne des Schmerzes bittersüße. Sie ließ sie nicht herein. 
 
Noch einmal atmete sie eiskalte Luft, streckte ihre Arme aus und schaute nach unten. Das Großstadtmeer breitete sich zu ihren Füßen aus. Autos, so winzig, dass man ihren Lärm nicht mehr wahrnahm, Häuser und Plätze und Seen und Parks. Alles was zum aufregenden, abwechslungsreichen Leben in einer Metropole gehörte lag versammelt zu ihren Füßen. Marianne führte ihre Hand nach unten und streichelte die Autos, Straßen, Kirchen, Grünflächen, alles streichelte sie, aber die Menschen streichelte sie nicht, zu klein waren diese, sie konnte sie nicht sehen.
 
Ihr friedvolles, segnendes Lächeln verschwand und an seine Stelle trat eine Fratze. Mit weitaufgerissenem Mund, die Lippen hinter Zähnen und Zahnfleisch angespannt, rollte sie mit den Augen, legte ihren Kopf in den Nacken und schrie. Sie schrie und schrie und schrie. Sie schien in mehreren Stimmlagen gleichzeitig zu schreien. Hoch und grell, dumpf und krächzend, kraftvoll und gewaltig. Und doch hörte sie selbst nur einen geringen Prozentsatz dessen, was aus ihrem Rachen stürzte. Der Wind trug alles mit sich fort. Sie schrie auch noch, als sie längst wieder einatmen wollte. Sie presste den letzten Kubikzentimeter Luft röchelnd aus sich heraus, reinigte ihren Körper durch diese konsequente Lufttransfusion, die auch die letzten Kämmerchen ihrer Lunge leerte. Dann versagten ihre Beine. Der Körper klappte zusammen, ihr Po knallte auf ihre Fersen, und mit dem Rücken plumpste sie auf das geteerte, flache Dach. 
 
Sie rang nach Atem. Wand sich nach rechts und links, hob ihre Hände an ihr Gesicht und atmete ein. Lange ein. Tief ein. Ihr Körper wuchs und schwoll an. Die Rippen öffneten sich wie eine Blume. Sie stampfte mit den Fußflächen links und rechts auf den Boden, hob ihren Hintern an und drückte den Rücken durch. So verharrte sie bis es nicht mehr weiterging. Sie war voller Luft. Voller kalter, klarer,reiner Luft. Dann wurde sie ohnmächtig.
 
Sie erwachte, als es anfing zu regnen. Kleine Tropfen platschten auf ihr Gesicht, kitzelten sie an der Nase, flossen in ihren Mund. Waren sie salzig? Weinte der Himmel? Sie drehte sich auf den Rücken und blinzelte lächelnd nach oben. Sei nicht traurig, ich werde dich trösten, dachte sie und streckte ihre Hand in die dunklen Wolken. Erst wusste sie nicht genau welche sie nehmen sollte, dann entschied sie sich für eine kleine runde Wolke, die aussah wie ein Gesicht mit einer Clownsnase. Diese pflückte sie vom Himmel und stopfte sie sich bedächtig in den Mund. Ich werde den Himmel trösten, dachte sie, er soll nicht traurig sein wegen mir. Und so pflückte sie schnell Wolke um Wolke vom Himmel, verschlang sie und fühlte sich glücklich. Die Sonne strahlte vom Himmel, er war wieder blau. Marianne wischte sich die Tränen von den Wangen und lächelte verschämt. Sie schaute auf ihre Uhr, es war siebzehn Uhr einunddreißig. Das Leben erwartete sie.
 
HvvH`XX/08/06 - entstanden in Düsseldorf

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