Freitag, 9. Dezember 2022

Kurzgeschichte Nr.13 "Das Gespräch im Spiegel"

Es war einmal heute. Das Heute von heute. Das Jetzt.
 
Sie atmete flach... Wie konnte der Körper nur funktionieren mit so wenig Sauerstoff? Kaum hob und senkte sich ihr Brustkorb... Sie atmete tief ein. Und wieder aus. Ungewohnt... Also wieder flach atmen... So als wäre sie auf der Jagd und würde versuchen, keinen Mucks von sich zu geben. 
 
Plötzlich hörte sie ein Geräusch von der Fensterbank. Sie drehte sich um. Da saß eine graue Taube! "Wer bist du?" dachte sie sich "Woher kommst du und was willst du..? Was ist dein Begehren?" Die Taube schloss die Augen und öffnete ihre beiden Flügel. Spreizte sie weit auseinander... Da hörte Louisianne die Stimme der Taube in ihrem Kopf. "Ich bin dein Schicksal, das auf dich wartet..." Louisianne schloss ebenfalls die Augen und versuchte sich auf die Stimme der Taube in ihrem Kopf zu konzentrieren... "Aber mein Schicksal hat bereits begonnen..,- es steht fest." "Wie kommst du darauf? Weißt du denn nicht,-..?" Die Taube unterbrach sich, dann Stille, dann ein Autoquietschen und wieder Stille. Louisianne öffnete die Augen. Die Taube war weg. 
 
Louisianne rannte zum Fenster und sah nach unten. Da lag die Taube, platt und zerquetscht, die Eingeweide quollen zu beiden Seiten aus dem Körper, der Kopf war aufgeplatzt, man konnte nur noch einen kaputten Schnabel ausmachen. "Was weiß ich nicht?" rief Louisianne. "W-a-s weiß ich nicht?!?" 
 
Keine Antwort, die Taube war tot. "Die Fensterscheibe ist ganz schön schmutzig" dachte Louisianne verärgert. Die muss mal wieder geputzt werden. Sie seufzte. Dann ging sie ins Bad, nahm den kleinen Eimer, ging in die Küche und ließ heißes Wasse mit Spüli ein. Sie nutzte den Moment und hielt ihre rechte Hand in den mehr als warmen Wasserstrahl. Das tat gut... Kurz die Augen schließen und genießen... Dann die Augen wieder auf und die Hände abgetrocknet... Sie suchte sich die Putzsachen zusammen, zog die kleine Leiter hinter dem Schrank hervor und ging ins Schlafzimmer.
 
Warum hatte sie sich auch gerade hingelegt? Es war doch hellichter Tag? Müde war sie eigentlich nicht gewesen, aber ruhebedürftig. Sie stellte sich vor das Fenster, klappte die Leiter auseinander und bestieg die breiten Stufen. Eins, zwei, drei. Sie warf nochmal einen Blick aus dem Fenster. Dort, wo eben noch die tote Taube gelegen hatte, war nun eine tiefschwarze Wasserpfütze. Louisianne öffnete das Fenster und beugte sich weit noch vorne. Sie schaute jetzt direkt in die Pfütze. Diese war glatt wie ein Spiegel. Louisianne sah sich selbst. Große Augen, Stubsnase und einen schmalen Mund,- nicht den vollen einer Diva, eher der verschmitzte von einer Kumpeline, mit der man Pferde stehlen konnte. Louisianne öffnete die Lippen und formte ihren Mund zu einem "O". Plötzlich bewegte sich in der spiegelnden Pfütze im Schwarz ihres geöffneten Mundes etwas. Zwei kleine Augen blinzelten hervor. Louisianne sah den Kopf der Taube in ihrem Mund! Wie aus einem Astloch schaute die Taube daraus hervor... 
 
Louisianne schloss ihren Mund, presste die Lippen fest aufeinander, zog sich zurück und machte das Fenster zu. Sie spürte nichts. Die Taube war nicht in ihrem Mund. Nur ihre Zähne und ihre Zunge... Vorsichtshalber schluckte sie den gesamten Speichel herunter. Sofort wurde neuer produziert und drang aus den Drüsen, die unter ihrer Zunge lagen. Auch diesen schluckte sie hinunter. Da kam ihr Freund von der Arbeit heim. 
 
Sie hörte die Wohnungstür aufgehen und dann seine Schritte... Da stand er im Türrahmen. Er lächelte, schaute sie strahlend an und fragte: "Wie war dein Tag?" Louisianne stieg von der Leiter und rannte auf ihn zu. Sie wollte ihm alles erzählen. Eifrig öffnete sie ihren Mund, da spürte sie sie... Die Taube... In ihrem Mund! Louisianne konnte den Mund nicht mehr schließen, so füllte die Taube ihren gesamten Mundraum aus. Die Taube fing an zu gurren. Sie gurrte und gurrte und gurrte. Wie ein plätschernder Bach. 
 
Louisianne erstarrte. Ihr Blick verengte sich. Sie konnte gerade noch erkennen, wie ihr Freund ihr interessiert in die Augen schaute und fragte: "Ach wirklich, und dann? Erzähl weiter...". Die Taube wippte mit ihrem Kopf auf und ab und gurrte in den unterschiedlichsten Tonlagen. Da erstarrte auch Louisianne`s Freund. Gemeinsam standen sich Louisianne und ihr Freund gegenüber, Louisianne mit geöffnetem Mund und ihr Freund mit einem interessierten Blick, dem Gurren der Taube fasziniert lauschend. "Er schaut mir in die Augen, direkt in die Augen und er hört mir zu" dachte sich Louisianne noch... Sie war sich sicher, daß das Gurren der Taube keine Bedeutung hatte.
 
Zumindest nicht für sie...
 
HvvH`20/10/22 entstanden in Neugreußnig (Ebersbach) bei Döbeln, Sachsen

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