Freitag, 9. Dezember 2022

Kurzgeschichte Nr.11 "Mit der Nase voran"

Er war eher der ritterliche Typ. Könnte man meinen. Nur was genau hieß eigentlich ritterlich? Wäre es ritterlich gewesen, wenn er einem beigestanden hätte, oder war es tatsächlich ritterlich, dass er es vorzog sich zum passenden Zeitpunkt zurückzuziehen? Im Grunde waren wir doch alle Egoisten und redeten uns unser Verhalten einfach nur schön. Ritter hin oder her,- das Pferd war jedenfalls weg! Und darum tat es ihr eigentlich am meisten leid... Es wäre ihre Chance gewesen. Nicht nur um zu überprüfen, ob das Ideal, das sie sich schon seit ihrer frühesten Kindheit von diesem edlen Begleiter gemacht hatte, auch nur annähernd der Wirklichkeit entsprach, sondern auch, um zu sehen, wie so ein märchen- und sagenhaftes Geschöpf wohl auf sie, auf ihre ureigenste Person, reagiert hätte. Ob es sich ihr anvertraut, oder sie stattdessen vielleicht völlig ignoriert hätte. Nun würde sie es niemals erfahren...

Aber nein, auch das glaubte sie nicht wirklich. Sie würde es erfahren. Eines Tages, bei Zeiten. Nur war der Weg nun keine Abkürzung mehr, und er trug auch einen anderen Namen. Der wahre Weg war eben nie eine Abkürzung. Am Ende würde sie nicht passiv errettet werden, sondern sie würde sich aktiv selbst verwandeln. Verwandeln in eines jener Geschöpfe, nach denen sie sich schon immer gesehnt hatte. Geschöpfe, die nie sprachen, außer mit ihren Augen, diesen wundervollen, dunklen, glänzenden Halbkugeln, die so viel zu sehen schienen. Geschöpfe, die eine immense Kraft besaßen, ohne brachial zu sein und stattdessen an vielen Stellen ihres Körpers eine erstaunliche Feingliedrigkeit besaßen. Geschöpfe, deren Zeit, falls sie denn an ihrem schwächsten Punkt verletzt werden würden, augenblicklich abgelaufen wäre, weil der schwächste Punkt, einmal gebrochen, nicht mehr genügend Stabilität für die unbändige Kraft des Lebens besessen hätte. 
 
Diesen Umstand hatte sie früher als extrem unfair empfunden, als grotesk und absolute Verschwendung der Schönheit, des Anmutes und Zaubers,- aber nun wusste sie, dass es nur konsequent war. Warum auch so tun, als würde es immer weitergehen. Wenn es doch nicht stimmte. In den alten Geschichten war in einem solchen Falle Schluss. Nur im Leben ging es immer weiter. Obwohl man noch gar nicht verstanden hatte, was einem da eigentlich gerade passiert war. Sich nicht klargemacht hatte, was man davon hätte halten können. Und absolut keine Vorstellung davon entwickelt hatte, wie man hätte handeln können.
 
Aber was diesen letzten Punkt anging, hatte sie schon immer eine sehr eigenwillige Haltung eingenommen. Sie überliess ihn in einem solchen Fall einfach gerne der Zeit. Diese würde dieses Tohuwabohu nach und nach zusammensammeln, es ordentlich durchkneten, wenn es sein musste, über Jahre hinweg, den Teig dann, solange es nötig sein würde, liegenlassen, so dass er quellen würde bis er durch und durch luftig und weich wäre. Nach einer solchen Behandlung wäre schließlich alles bereit,- jedes Problem, jeder erbärmliche Gedanke, jedes noch so verquere Gefühl, und alles was die Zeit dann lediglich noch zu tun hätte, wäre dieses Problem, das schon keines mehr wäre, durch die Hitze der Jetztzeit wieder zu aktivieren.
 
Die Veränderung kündigt sich dem Menschen dann mit einem Duft an. Einem Geruch, der ihn an vergangene Zeiten erinnert, an Menschen, deren Wege er einmal gekreuzt hat. Der Mensch weiß es nicht, aber bevor er jemanden nach langer Zeit wiedertrifft, kann er ihn - lange davor schon - auch wirklich wieder riechen...
 
HvvH`03/04/13 - entstanden in Düsseldorf

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