Freitag, 9. Dezember 2022

Kurzgeschichte Nr.2 "Der Blick zurück"

So als hätte sie es unbewusst geahnt, fing es genau in dem Moment, als sie das Kaufhaus betrat, heftig an zu stürmen. Während der Regen mit lautem Geprassel hinter ihrem Rücken hin und herpeitschte, wurde sie im Eingangsbereich des Jugendstilgebäudes von warmer, surrender Luft umhüllt. „Was tue ich eigentlich hier?“, fragte sie sich. „Mir fehlt es schließlich an nichts...“ Langsam schritt sie auf die Rolltreppe zu und trat auf die auftauchenden, sich unaufhaltsam neu aufbauenden Stufen. Sie legte ihre Hand auf die ruckelnd dahin gleitende Gummireling und schaute sich um. Ihr fehlte es an nichts... Ein wahrer Satz. Nichts, was ihr bewusst wäre oder zumindest nichts, was man käuflich erwerben könnte. Oder doch? Gerade noch rechtzeitig bemerkte sie, das sie am Ende angelangt und die Rolltreppe wieder dabei war im Unbekannten zu verschwinden. Sie machte einen kleinen Satz mit ihren zarten Riemchenpumps und fand gerade noch festen Boden unter den Füßen. Augenblicklich blieb sie stehen. Sie hatte ihn gesehen...
 
Murrende Passanten drängelten sich an ihr vorbei, stießen sie hin und her, doch von all dem völlig unberührt, starrte sie nur stumm zu ihm hin. Zu Ihm, dem Unvergessenen, dem Ewigerinnerten, dem allzeit Bereiten. Dem Behüter und Tröster. Er war natürlich nicht derselbe, wahrscheinlich existierte das Originalmodell nicht mehr. Aber er sah zumindest genau so aus. Nach all den Jahren fiel ihr auf wie extravagant allein schon seine äußere Form war, ganz abgesehen von den feinen, schwungvollen Details. Das war er und würde es ewig sein, ihr Kinderwagen! 
 
Langsam schritt sie auf ihn zu. Wie er im Kunstlicht glänzte! Wie geschmeidig seine wohltuenden Rundungen angelegt waren. Schritt für Schritt kam sie ihm näher und wurde Schritt für Schritt kleiner. Sie selbst nahm das natürlich etwas differenzierter wahr. Der Kinderwagen wuchs vor ihren Augen lediglich zu der stattlichen Größe heran, die er einst, zumindest in ihren Augen besessen hatte. Und war dies nicht ein anerkanntes Gesetz der Physik, das die Dinge, je näher sie kamen, umso größer wurden? Jetzt war er schon größer als sie. Nun gut, dann war seine Größe eben immer ein wenig ihrer eigenen aktuellen Größe überlegen, existierte sozusagen allein in Relation zu ihr. Kaum hatte sie ihn erreicht, da erkannte sie auch schon das Problem. Es war keine Mutter mehr da, die sie hätte hineinlegen können. Zumindest keine Mutter in passender Größe. Nun, immerhin hatte sie Laufen gelernt, und zum Klettern würde das allemal genügen. Sie legte die Hände an die Eisenstangen und zog sich langsam hoch. Der Kinderwagen fing bedrohlich an zu schwanken. Als sie die Füße aufsetzte und mit den Spitzen der Schuhe Halt suchte, ging es schon viel besser. Als sie dann auch noch die erste Hand über den Rand des Schlafkorbes legte, wusste sie, das sie es schaffen würde. Sie zog sich Stückchen für Stückchen höher, legte die andere Hand nach, hievte den Körper bis zur Taille hoch und plumpste mit einem Rutsch in die weichen Kissen. War das ein herrliches Gefühl! Schnell robbte sie nach vorn, griff nach dem Zipfel der Decke, legte sie flink um und tauchte mit ihrem Körper unter den Daunenberg. Mit einer geschickten Verrenkung des Körpers langte sie nach ihren Pumps und warf sie hoch in die Luft davon. Jetzt noch das Kopfkissen ein wenig zurechtrücken, und fertig war der Fahrschein in die Glückseligkeit. 
 
Da gab es einen heftigen Ruck und als sie die Augen öffnete sah sie zu ihrem Entsetzen einen riesigen Mann, der vorn übergebeugt in ihre Augen schaute. Er lächelte sie an, drehte den Kopf zur Seite und sagte:“ Den nehme ich. Kostet die Puppe extra?“ Gwendolyn wollte protestieren, kriegte aber keinen Laut heraus, sie wollte aufstehen, konnte sich aber nicht bewegen. Eine Frau kam dazu, schaute gelangweilt auf Gwen herab und meinte nur: „Die hat sicher ein Kind hier hineingelegt. Na ja, die Kleine wird schon gewusst haben, wo sich ihre Puppe am wohlsten fühlt. Ich würde sagen, bevor Sie sie beim Fundbüro abgeben und daraus was Herrenloses wird, nehmen Sie sie besser mit.“ Der Mann lächelte, legte seine beiden Hände um die Eisenstange, und der Kinderwagen setzte sich in Bewegung.
 
HvvH`29/03/05 - entstanden in Düsseldorf

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