Freitag, 9. Dezember 2022

Kurzgeschichte Nr.5 "Die Natur des Menschen"

Immer, wenn es regnete, verstummte seine Sprache. Sein Mund öffnete sich schwer, die Mundwinkel zeigten beständig nach unten und aus seinem Rachen kamen nur noch seltsame Laute. Laute, die ein Tier wohl eher verstehen würde als der Mensch. Dieser reagierte dann auch sehr verstört, gab sich jedoch kaum Mühe dies zu verheimlichen. Fragend wurde er angesehen, offen wurde über ihn gelacht. Mitleidig wurde ihm die Schulter gedrückt, und einhellig hieß es: „Alles klar? Geht’s dir auch
gut?“ Wie sehr er das hasste. Aber auch von den Tieren konnte man nicht viel erwarten. Seine Katze verstand, dass er ein Problem mit sich hatte und verließ ihn für ein paar Tage. Andere Tiere gab es nicht in seinem Umfeld. Ein Pferd wäre ihm sicher ein guter Kamerad gewesen. Er besaß jedoch keins. Also machte er Sprechübungen. Lächerliche Aas und Oos presste er unter Mühe heraus und wollte doch nur jammern. Knurren fiel ihm nicht schwer, Stöhnen bereitete ihm Erleichterung. Lautes Aufheulen musste er der Nachbarn wegen unterdrücken. Manchmal dauerte der Regen wochenlang, schwoll an zu lauten Stürmen und ebbte in leichten Niesel ab. Dann saß Rolf am Fenster und studierte das Wasser. Wie es gegen die Scheibe trommelte, stumm hinunter rann und sich gemächlich wieder zusammenfand. Er mochte es, wenn einzelne Tropfen zufällig aufeinander stießen und schon bei der ersten kleinen Berührung miteinander verschmolzen. Wie leicht es doch schien.

Eines Tages erblickte er hinter der Scheibe etwas Wundervolles. Draußen im Innenhof hatte sich eine Blume niedergelassen. Das mag seltsam klingen, aber Blumen kommen schließlich als Samen, ähnlich einem Ufo regelrecht hernieder. Die anderen Möglichkeiten, dass sie als Dreck am Schuh beim Müll-raus-tragen, oder als Kotbestandteil seiner Katze ihren Weg in den Innenhof gefunden hatte, wollte er nicht in Betracht ziehen. Vielleicht aber war sie auch schon immer da gewesen, unter dem Asphalt in der dunklen Erde. Warum nur fing sie jetzt an zu wachsen? Es war kein Platz für eine Blume im Hof. Alles war grau, vom Kot der Tauben besudelt, die einzigen Besucher waren die Müllmänner, die jeden Mittwoch mit lautem Gepolter kamen und wieder verschwanden. Was war es nur, was sie angezogen hatte? Rolf fragte sich, ob sie ihm zuliebe gekommen war. Konnte es sein? War sie seine Blume? Würde sie allein für ihn blühen? Eifersüchtig stierte er zu den Nachbarsfenstern hoch. Gab es noch andere Bewunderer? Vorerst nicht. Halbwegs entspannt ließ er sich in den Sessel zurückfallen.

Die Blume wuchs von Tag zu Tag. Der Regen ließ nach und Rolfs Sprache kehrte wieder zu ihm zurück. Jeden Tag saß er am Fenster und begleitete die Blume auf ihrem beschwerlichen Weg hinaus aus der Asphaltritze ins Sonnenlicht. Hätte sie sprechen können, sie hätte ihm gesagt, dass er sich irrte, dass sie keine Blume war und nie sein würde. Doch selbst wenn sie es ihm hätte sagen können, Rolf hätte es nicht gehört. Zu dick war die Glasscheibe zwischen ihnen. Eine Wand die ihm Sicherheit zu verschaffen schien, eine Distanz, die er nie zu überbrücken die Lust verspürte. Er starrte sie immerzu an, kam jedoch nicht mal auf den Gedanken sie in ihrer Welt zu besuchen. Ängstlich war er darauf bedacht die Glasscheibe sauber zu halten, immerzu wischte er mit dem Ärmel die kleinste graue Schliere auf der Scheibe fort. Dann existierte für ihn keine Trennung. Doch das war ein Irrtum. Er vernahm keinen Lufthauch, spürte die Sonne nicht ungehindert seine Haut erwärmen, hörte nicht das leise Rascheln der Blätter. All die Dinge, die die kleine Pflanze um sich herum tagtäglich erlebte, die Teil ihres Seins waren, so wie ihr grüner Stengel und die kleinen, schweren Blätter. Hätte sie ihn sehen können, es hätte seltsam ausgesehen und sie zum Schmunzeln angeregt. Wie er dort saß. Im Dunkeln des Fensters. Mit großen Augen und einem unentschiedenen Zug um die Mundwinkel, halb Lächeln, halb Qual. Langsam ahnte auch er die Wahrheit, doch wollte er sich den Irrtum nicht eingestehen, zu schön war die Vorstellung einer Blume. Zart war sie, empfindsam und verletzlich, das konnte er sehen. Nur trieb sie keine Knospen. Stattdessen verhärtete sich langsam ihr grüner Stiel, den wagen Übergang vom hellen Grün ins noch undefinierte Braun konnte er sogar auf diese Entfernung erkennen. Doch tapfer harrte er aus. Es war noch nichts entschieden. Auch unter den Blumen gab es besondere Exemplare, kraftvollere Formen. Diese hatten meist besonders schöne Blüten, exotische, farbintensive, strahlende Gebilde. Für diesen Anblick wäre er bereit gewesen über die verhärteten, unempfindlicheren Eigenschaften hinwegzusehen. 
 
Dann kam der Regen. Und mit ihm verlor sich Rolf`s Sprachschatz erneut. Der Regen dauerte Tage, Wochen und Rolf vereinsamte zutiefst. Er verkroch sich in seiner Wohnung, mied jeden Kontakt mit der Außenwelt und wollte nur noch allein sein. Allein mit seiner Blume. Sie schien trotz ihrer offensichtlicheren Abhängigkeit von Wind und Wetter dagegen viel unempfindlicher zu sein als er. Er hatte schon daran gedacht ihr einen Unterschlupf zu bauen, ja dafür wäre er bereit gewesen zu ihr hinüber zu gehen, aber sie trotzte den Unbilden des Wetters , schien noch gestärkter daraus hervorzugehen. Sie streckte ihre Blätter in alle Richtungen und wuchs zu einer stattlichen Pflanze heran. Immer noch ohne jedes Anzeichen einer Blüte. Vielleicht würde sie niemals blühen. Vielleicht war sie nur ein dummes Gestrüpp, Unkraut, Grünzeug. Rolf wand sich angewidert ab und schämte sich seiner in sie investierten Gefühle zutiefst. Er verkroch sich ins Innere seiner Wohnung und senkte seine Nase tief in die Massen von Büchern, die er im Laufe der Zeit bei Haushaltsauflösungen auf den Straßen gesammelt hatte. 
 
Ihm war es egal was er las. Schnulzenromane, pseudowissenschaftliche Historienschinken, die dermaßen von ihrer Entstehungszeit geprägt waren, das es schon fast weh tat, oder Sachbücher, die sich mit solch speziellen Themen befassten, das es eigentlich reine Zeitverschwendung war sich mit ihnen zu befassen. Rolf war es gleich. Es erschien ihm ohnehin alles derart sinnlos, dass er keine Lust verspürte zwischen sinnlos und sinnhaft zu unterscheiden. Es tat ihm gut sich mit der Sprache der Menschen zu umgeben, wenn er selbst ihrer schon nicht mehr mächtig war. Er seufzte laut und schielte zum Fenster hinüber. Von seiner niedrigen Sitzposition aus konnte er nicht annähernd in den Garten einsehen. Ihm war es gleich. Sollte die Grünpflanze doch mit sich selbst klarkommen. Er hatte sich geirrt, war von anderen Vorraussetzungen ausgegangen und fühlte sich nicht weiter verpflichtet. So gingen die Jahre dahin. Der Regen ebbte ab und schwoll wieder an, ebbte ab und schwoll an. Rolf ertrug seine unerklärliche Abhängigkeit von ihm demutsvoll, als wäre es eine Buße die er zu tragen verpflichtet sei. In all der Zeit hatte er kein einziges Mal den konkreten Blick aus dem Fenster gewagt, sondern hatte sich Tagträumen hingegeben, wie die Pflanze brutal hinweggespült, und an ihrer Statt das Zarte, ja Zärtliche sich einnisten würde.
 
Eines Tages fiel ein Schatten in sein Zimmer. Schmal erst, aber nicht zu übersehen. Rolf war überrascht. Er rannte zum Fenster, blickte zur Seite, dort wo früher die vermeintliche Blume gestanden hatte und erblickte, noch voll naiver Ungläubigkeit, einen Baum. Er war entsetzt. Hatte er früher noch seinen Beschützerinstinkt an der kleinen Pflanze laben können, so fühlte er sich nun von dem daraus erwachsenen Baum regelrecht bedroht. Hätte er sie doch bloß herausgerissen als noch Zeit dazu war. Nun war alles zu spät. Jeden Tag würde der Schatten des Ungetüms nun in sein Zimmer fallen. Vorbei die Zeiten als er so tun konnte als existiere die grüne Missbildung gar nicht. Der Baum war stark, seine Stamm ragte bereits mit einem gehörigen Durchmesser aus der Erde. Er hätte sich die Finger daran schmutzig gemacht, hätte er ihn mühsam entfernt. Das kam für ihn nicht ihn Frage. Der Baum existierte nun mal, also musste er, um nicht tagtäglich an seine eigenen trotteligen Gefühle von damals erinnert zu werden, Verzicht üben. Hauptsache, er hatte wieder Ruhe. Also schob Rolf den schweren Vorhang, den er von seiner Großmutter geerbt hatte zu, und öffnete ihn Zeit seines Lebens, denn die verbrachte er in jener kleinen Junggesellenwohnung, nicht mehr. Rolf vergaß den Baum. Ohnehin hatte er genug damit zu kämpfen, das seine Sprachprobleme von Tag zu Tag schlimmer wurden. Sie traten nun auch bei schönem Wetter zutage und würden ihn nie mehr verlassen. Er vereinsamte zusehendst. 
 
Am Anfang versuchte er noch zu trainieren. Er machte wieder seine Sprechübungen, las so viel er nur konnte und versuchte trotz seiner mangelhaften Ausdrucksweise mit anderen Menschen zu kommunizieren. Eines Tages gab er auf. Ab jetzt würde nur noch Stöhnen, Knurren und Heulen seinen Mund verlassen. Geräusche deren er sich zutiefst schämte. Er ging nicht mehr unter Menschen, verließ nie mehr das Haus. Alles, was er zum Leben brauchte, bestellte er sich über Kataloge, und selbst die Zahlungen fanden nicht bar über die Hand sondern über das Internet statt. So brauchte er zwar das kleine Erbe seiner Großtante konsequent, innerhalb weniger Jahre auf, das machte jedoch nichts, denn noch bevor es sich gänzlich auflöste, zog Rolf es vor zu sterben. Mit einem lauten, knurrenden Heulton, dem einzigen, den sich Rolf trotz der Nachbarn je erlaubte, verließ er die Welt der Lebenden und erwachte nicht mehr. Als die Entrümpler in die Wohnung eindrangen um Ordnung zu schaffen und alles Alte, Unnütze auszumisten, und sich alles Brauchbare wie immer unter den Nagel zu reißen, öffnete einer von Ihnen, ein junger tumber Kerl, den Vorhang, um ihn an der Seite heruntergleiten zu lassen und ihn in die Mülltüte zu packen. Dabei fiel sein Blick hinaus in den Hof.
 
Wenn der Baum Augen gehabt hätte, nie hätte er den leicht idiotischen aber unendlich bewundernden Gesichtsausdruck vergessen, mit dem ihn dieser Mann mit offenem Mund aus dem dunkel verschmierten Fensterrahmen anstarrte. Und zu der Leichtigkeit mit der er seine tausend Blüten trug, wäre wohl doch noch ein wenig Stolz hinzugekommen.
 
HvvH`14/04/05 - entstanden in Düsseldorf

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