Freitag, 9. Dezember 2022

Kurzgeschichte Nr.1 "Die Erde ruht"

„Hast du das gesehen?“, fragte der Bauer seinen Sohn. „Nein, Vater, was..?“. „Dort drüben, am Waldrand war etwas, ein seltsames Leuchten...“ Er starrte zu der Stelle rüber, die gräulich im Mondschein vor sich hindämmerte und je länger er schaute, desto dunkler und unschärfer wurde sie. Schließlich richtete er sich stolz auf, hob seine Harke hoch über den Kopf und stieß sie kraftvoll in die feuchte Erde hinein. In diesem Moment erblickte auch sein Sohn das seltsame Licht. Nicht am Waldrand war es, sondern in der Mitte des Feldes, das sie beide gerade bewässerten. Er sagte dem Vater nichts, beobachtete ihn nur ängstlich von der Seite, ob er es vielleicht auch erkannt hätte. Doch nichts geschah. Sein Vater plagte sich mit der Erde ab, fluchte, trat in den Schlamm, und löste Brocken für Brocken um ihn in den Kanal zu rollen. Schließlich war der Damm fertig, das Wasser floss in den Seitenarm und verschwand im Dunkeln der Nacht.

Das Licht war immer noch da. Sein Vater, der mit dem Rücken zum Feld stand, und sich die Hände an einem alten Lappen abtrocknete, hielt den Blick gesenkt, runzelte plötzlich die Stirn und fing mit sehr ernster Stimme an zu sprechen. Dabei schaute er seinem Sohn direkt in die Augen. „Wenn du dieses Licht jemals mit eigenen Augen sehen solltest, dann gib mir darüber Bescheid. Hast du gehört?“ Der Junge, dessen Blick zwischen den tiefschwarzen, brennenden Augen seines Vaters und dem silbrigen, pulsierenden Leuchten auf dem Felde hin und herging, sagte nur: “Ja, Vater.“ Er kannte seinen Vater gut genug um zu wissen, das er auf seine Fragen keine Antwort bekommen hätte.
 
HvvH`16/03/05 - entstanden in Düsseldorf

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