Freitag, 9. Dezember 2022

Kurzgeschichte Nr.7 "Die Ziellinie"

Schnell packte sie ihre Sachen, schaute nochmal nach, ob alle Lichter gelöscht, die Herdplatten aus und eventuell gefährliche Stromstecker aus den Anschlussdosen gezogen waren. Sie schämte sich immer ein wenig für solche in ihren Augen vermeintlich zwanghafte Handlungen. Natürlich könnte sie ihre Ängste einfach ignorieren, dann würde sie sich normaler vorkommen , aber dann würden sie auf dem Nachhauseweg die Änste plagen, und das war ihr dieses kleine Gefühl normal zu sein, so wie die anderen, die Gesunden, einfach nicht wert. 
 
Als sie auf die Straße trat, zog sie die eiskalte Luft scharf ein, ein kleiner Schauer zog sich durch ihren Oberkörper und verlief sich irgendwo im Wirbelsäulenfortsatz, diesem kleinen Stück Erinnerung an die Zeit, als der Mensch noch Tier war. Sie besäße gerne noch diesen Affenschwanz, dieses fünfte Bein, um sich an Ästen festzukrallen, die der Mensch nun geflissentlich ignorierte. Um sich abzustützen, falls die Beine einmal ihren Dienst versagten, so dass man nicht verräterisch irgendwo mit den Händen Halt suchen mußte, wenn man z.B einer alten, nie gelebten Liebe begegnete, und man das Gefühl hatte, man müsse gleich in Ohnmacht fallen. Mit diesem Schwanz könnte man auch seine Freude zum Ausdruck bringen, ohne ein Wort, man könnte sich, wenn man ein Geschenk erhielt einfach mit einem furiosen Schwanzwedeln bedanken und dazu ein zufriedenes Kamelgrinsen präsentieren.
 
Vieles wäre einfacher, hätte man noch seinen Schwanz. Und eindeutiger. Sie atmete die erwärmte Luft in einer kleinen Wolke aus und ging auf die Bahnhaltestelle zu. Vielleicht war es gut so, dass der Mensch seinen Schwanz nicht mehr besaß. Wahrscheinlich würde es ihm sonst schwerer fallen Gefühle zu verstecken. Vielleicht besäße er nicht die mentale Kraft um dessen Regungen zu unterdrücken. Und das könnte einem in der Welt, in der die Menschen heute lebten, hinderlich sein.
 
Vielleicht waren die Frühmenschen, die noch einen Schwanz besaßen ja deshalb ausgestorben, hatten sich nicht so gut fortpflanzen können wie ihre Artgenossen mit verkümmerten Schwänzen, deren Gefühle nicht ersichtlich waren und im Verborgenen lauerten. Gefährlich waren die, nie konnte man wissen was sie dachten. Wenn sich deren kaum noch sichtbare Nackenhaare bei Feindberührung aufstellten, der Puls sich beschleunigte und die Pupillen sich weiteten, war man als unaufmerksamer Beobachter dennoch nicht wirklich gewarnt. Würde sich der Schwanz jedoch kerzengerade aufstellen, mit einer Spitze die angespannt von links nach rechts pendelt, so wüßte das Gegenüber, daß von diesem Menschen nichts Positives zu erwarten wäre.
 
Susanne nahm hinter sich ein brodelndes, leise donnerndes Geräusch wahr, das sich verstärkte. Der Boden unter ihren Füßen fing dumpf an zu vibrieren. Sie rannte los. Wie sie es hasste neben der herannahenden Straßenbahn herzurennen, mit hechelndem Gesicht und auf und ab hüpfender Tasche darauf zu hoffen, daß sie die im Countdown piepende Tür noch früh genug erreichen möge. Mit ihrem geröteten Gesicht auf gleicher Höhe wie die sitzenden Bahninsassen verfluchte sie die Blöße, die sie sich gab und die die anderen bequem studieren konnten. Als die Tür sich mit einem letzten eindringlichen Piep gerade schließen wollte, stampfte sie ihren Fuß vor die Infrarotlampe. Auf Lichtschranken war Verlass. Die Tür zog sich ohne einen weiteren Ton zurück und gab ihr eine neue Schonfrist um einzutreten.
 
Das war leicht gesagt, die Tür quoll fast über von stehenden Menschen, die sich an den Halteschlaufen festhielten, und, in unterschiedlicher Höhe, versuchten möglichst uninteressiert geradeaus zu schauen. So nahm auch keiner wirklich Notiz von ihr. Nur die vordersten Drei versuchten nur wenig ambitioniert ein kleines bisschen nach links oder rechts zu drippeln, was ihnen jedoch lediglich dazu diente ihr soziales Gewissen zu beruhigen und nicht wirklich eine Verbesserung der Platzsituation mit sich brachte. Susanne holte tief Luft, stellte sich auf die Fußspitzen, legte ihre sich ausbreitenden Arme mit gebeugtem Oberkörper aneinander und stieß sich vom Boden ab. Langsam tauchte sie in die warme Luft der Straßenbahn ein. 
 
Während sie über den Köpfen der Fahrgäste hinwegschwebte, nahm sie deren Gerüche wahr. Wie unterschiedlich sie doch waren. Manche rochen gehetzt, andere strömten neben den Parfum-. und After-shave-Düften einen ganz zarten, sachten Körperdunst aus. Andere wiederum rochen abgestanden, nach Nikotin oder Alkohol oder einem seltsam-pudrigen, unangenehmen Eigengeruch, so tot wie eine längst vergangene und eigensinnig am Leben erhalten Mode. Diesen Geruch konnte sie kaum ertragen, er erinnerte sie an lebendig begraben sein, an Leblosigkeit und Verwesung. Dann nahm sie einen Dunst wahr, den sie liebte. 
 
Ein leicht verschwitztes Kindergesicht tauchte vor ihr auf, sachte senkte sie sich herab, hier wollte sie sich niederlassen. Sie setzte sich auf den Schoß des Kindes und das Kind fing an zu schreien. Einige Fahrgäste verdrehten die Augen, andere nahmen einen leicht stumpfsinnigen allzu ernsten Gesichtsausdruck an, den von Erwachsenen, die das Geplärre von Kleinkindern nicht ertragen können und auch nicht gewillt sind es zu ertragen. Das Kind beruhigte sich wieder und Susanne machte es sich bequem. 
 
Sie saß nun mit dem Kind zusammen im Kinderwagen, ihr Körper umschloss den Körper des kleinen Jungen. Sie spürte sein Herz schlagen und nahm seine kurzen Atemstöße wahr. Er drehte sein Gesicht nach oben, verrenkte sich fast seinen molligen Oberkörper, konnte sie aber nicht sehen. Dann drehte er sich mit einem resignierten Seufzer wieder herum und fing an, an seinem Stofftier zu zupfen. In dem Moment kam die Durchsage. Susanne hatte ihr Ziel erreicht. Sie rutschte vom Kinderwagen, glättete ein wenig ihre Kleidung, drängte sich durch die stehenden Insassen hindurch und trat aus der Bahn heraus. 
 
Sie ging neben der Bahn her, als diese anfuhr und verlor ihr Gleichgewicht. Gerade erst wieder materialisiert, also kaum zurück auf dem Boden der Tatsachen, wurde sie vom Luftzug der Bahn mitgerissen und landete mit einem unterdrückten Quieken auf den Gleisen. Nach einem kurzen Moment des Erstaunens kamen ein paar Leute zögernd näher. Ob sie Hilfe bräuchte? Sie solle sich beeilen, gleich käme die nächste Bahn. 
 
Ihr wurden Hände zum Hochziehen angeboten, aber Susanne verweigerte jede Hilfe. Trotzig stand sie da, mit gespreizten Beinen, auf dem Zwischenstück des Gleises. Am liebsten wäre sie einfach stehengeblieben, bis sich ihre Scham in Luft aufgelöst hätte. Sie kletterte zum Rand, zog sich hoch und sackte wieder zurück. Wie erbärmlich. Eben noch schwebend, war sie nun nicht einmal in der Lage sich einen Meter an einer Wand hochzuziehen. Dann hörte sie den herannahenden Zug. 
 
Ein junger Mann ging mit festen Schritten auf sie zu. Er fasste sie unter den Armen. Sie wollte gerade anfangen zu protestieren, als er mit einem zaghaften Lächeln meinte: „Nun kommen sie schon. Ich helfe Ihnen gern. Auch wenn sie das wahrscheinlich selber schaffen würden.“ „Was heisst hier wahrscheinlich? Ich kann schweben!“ „Ach, wirklich? Nun, das ist eine kostbare Fähigkeit, die man nicht an so gewöhnliche Orte wie diesen hier verschwenden sollte.“ „Sie glauben mir?“ „Natürlich, aber jetzt kommen sie erstmal hoch.“ Er zog sie auf die Füße. 
 
Wieder glättete Susanne ihre Kleidung, strich sich die Haare aus dem Gesicht und schaute auf. Der junge Mann war weg. Wo war er hin? Sie war perplex. So ein Mist, das war doch der beste Einstieg in einen perfekten Flirt gewesen: Junge Frau fällt hin, junger Mann eilt herbei und hilft ihr wieder auf die Füße. Zu schade. Susanne war trotzig und engstirnig, aber sie flirtete für ihr Leben gern. Sie schaute sich um. So schnell kann doch kein Mensch verschwinden. Außer natürlich, man will es mit all seiner Kraft. Und das wusste niemand besser als sie. Sie hob ihre Tasche vom Boden auf und ging zur Rolltreppe. Aber warum sollte er es plötzlich so eilig haben? Er hatte sie doch süß gefunden, das war offensichtlich gewesen...


HvvH`XX/01/06 - entstanden in Düsseldorf

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