Freitag, 9. Dezember 2022

Kurzgeschichte Nr.4 "Die Ouvertüre"

Gestern hatte er sie gesehen. Nach so vielen Jahren das erste Mal. Und doch hatte es ihm nichts bedeutet, zu lange war es her... Wie gut, dass er sich weiterentwickelt hatte. Er war nicht mehr derselbe. Im Beruf erfolgreich, im Privatleben gut organisiert, und was seine innersten Wünsche und Triebe anging, so waren sie wohl verstaut im unaufgeräumten Keller seiner Erinnerung. Selten kamen sie an die Oberfläche seiner Existenz. Meist bei profanen Anlässen. Wenn er badete oder ein Gericht zubereitete. Wenn er einfach nur Mensch war, schweiften seine Gedanken ab. Zum Glück kochte er nur selten und beim Baden konnte man den inneren Gefühlen Einhalt gebieten indem man sich nicht gehen ließ, sich die Haare wusch, einseifte, abduschte, aus der Wanne heraustrat, abrieb und eincremte. Es gab genug zu tun. Dann hatte einen der Alltag wieder. Beim Kochen war man ohnehin sehr beschäftigt, dennoch kamen auch da hin und wieder kurze Gefühlsfetzen an die Oberfläche, die sich aber schon mit der nächsten Handlung wieder auflösten.

Dann kam das Paket. Ohne Absender. Es überraschte ihn, private Post in diesem Ausmaß zu bekommen. Als er es hoch in die Wohnung trug, fühlte er sich wie ein kleines Kind, das vom Weihnachtsmann beschenkt wurde. Als er schließlich oben ankam, konnte er es kaum mehr erwarten. Er versuchte es mit den Händen aufzureißen. Doch das erwies sich als schwierig, zu zäh hielt das Klebeband an seiner Umklammerung des Paketes fest. Als er seine Schlüssel zur Hilfe nahm, ging es schon besser, aber es war ihm immer noch zu langsam. Schon verschlechterte sich seine Laune. Mit einem Seufzer der Erleichterung öffnete er den Deckel. Zuerst sah er nur Papierschnipsel, und als er sie auseinander schob, konnte er ein Holzkästchen erkennen. Es wurde spannend. Er hob die Schatulle hoch, befreite sie von den letzten Schnippselresten und starrte sie an. Sie hatte kein Schloss und kein Schlüsselloch. 
 
Ohnehin hätte er keinen passenden Schlüssel dafür gehabt, denn auch der fehlte. Er wusste nicht, was er tun sollte. Dann fiel ihm der orientalische Händler ein, der ihm damals im fernen Marokko mit Begeisterung ein ganz ähnliches Holzkästchen vorgeführt hatte. Martin wusste also, es gab eine Lösung. Er suchte und schaute, strich die Holzplättchen mit den Fingerkuppen ab und zog an allen Erhebungen. Schließlich fand er, was er suchte, ein lockeres Stück Holz. Als er es behutsam herauszog, fiel ihm der Schlüssel regelrecht in die geöffnete Hand. Nach weiteren zehn Minuten hatte Martin auch das Schlüsselloch entdeckt. Dann war es soweit. Er öffnete die Schatulle.
 
Zuerst sah er nur Watte. Als er daran zupfte, hob sich die oberste Schicht und löste sich wie eine Wolke. Er legte sie beiseite. Dann sah er Klopapier, das um einen kleinen Gegenstand herumgewickelt war. Er hob ihn hoch und wickelte ihn, von Neugierde geplagt, frei. In seiner Hand lag ein Taubenküken. Sein Atem ging schnell, der zerrupfte Körper hechelte vor Angst oder Atemnot oder beidem, wobei es Martin, der entsetzt und angeekelt war, ein Rätsel war, wie das Küken in der Schatulle hatte überleben können. Was für eine Tierquälerei! Was sollte er damit? Was für eine perverse, unsinnige Post! Dann entdeckte er das Halskettchen, halb verdeckt von den großporigen, mit verklebten Federn bedeckten Hautfalten. Behutsam drehte er das angstvolle Etwas auf die andere Seite. Sein Verdacht hatte sich bestätigt. Die Kette trug ein Silberplättchen mit eingraviertem Schriftzug. Die Schrift war nur schwer zu entziffern. Sie war sehr ornamental, voller Schnörkel und Verzierungen. Das Kettchen trug den Namen „Miriam“. Martin lehnte sich zurück, rutschte mit dem Körper an der Sofaseite herunter und atmete tief durch. 
 
Wie gerne hätte er sich jetzt den Gedanken an sie hingegeben, jetzt, da sie mit solch einer fragwürdigen Eindringlichkeit wieder in sein Leben getreten war. Doch das kleine Lebewesen in seiner Hand war nun einmal in seiner Obhut. Irgendetwas musste er tun. Er ging zum Telefon und wählte die Nummer der Auskunft. Zwei Stunden später, es hatte etwas länger gedauert, denn er hatte erst noch zu Abend gegessen, stand er im Büro des Tierheimes. 
 
Der Angestellte betrachtete das Küken in der Schuhschachtel kopfschüttelnd. „Und Sie sagen es ist Ihnen mit der Post zugesendet worden? „Ja.“ „Aber von wem? War denn sonst nichts in der Schachtel?“ „Nein nichts. Hören Sie, was werden Sie nun mit dem Küken machen?“ „Nun, Tauben fallen normalerweise nicht in unseren Verantwortungsbereich. Es gibt einfach zu viele von Ihnen. Wo kämen wir denn hin, wenn wir jedes heruntergefallene Küken, jede angefahrene oder einbeinige Taube bei uns aufnehmen würden. Wenn ich ehrlich bin, nehme ich mich des Kükens nur an, weil ich es mir nach ihrer absurden Geschichte mal mit eigenen Augen anschauen wollte. Nun, wir werden es durchfüttern und bei Zeiten aussetzen...Und Sie haben wirklich keine Ahnung von wem diese perverse Post stammt?“ „Nein. Haben Sie jedenfalls vielen Dank“ Nach einem kurzen Zögern gab Martin dem Tierpfleger die Hand, der sie mit ungewohnt rauhem Händeschütteln erwiderte. „Keine Ursache. Und falls sie noch mal Post bekommen, stets zu Diensten. Aber nur bis zu einer gewissen Größe, versteht sich!“ Lachend klopfte er sich auf die Schenkel und murmelte ein leises „Mann, oh Mann...“ in seinen Bart. 
 
Martin fuhr nach Hause. Während der Fahrt merkte er das Wut in ihm hochstieg. Abfällige, eiskalte Wut. Es war krank! Was auch immer ihm Miriam mit dieser Post hatte sagen wollen, sie war eindeutig zu weit gegangen. Auf Kosten jungen, hilflosen Lebens. Er wollte sich erst gar nicht mit der platten metaphorischen Ebene dieser Nachricht auseinandersetzen. Es interessierte ihn nicht im Geringsten. Sie hatte eine Grenze überschritten und sich damit selbst ins Aus manövriert. Sollte sie doch sehen, wo sie blieb. Auf normale Post oder einen netten Anruf hätte er vielleicht reagiert. Aber auf so etwas! Was sollte man dazu sagen? Da bekam man es ja mit der Angst zu tun... Als er zu Hause ankam, räumte er als erstes alle Spuren seines unfreiwilligen Besuchers weg. Er schmiss alles, auch die Schatulle in den Müll. Als er die letzten Papierfetzen gerade wegwerfen wollte, fiel ihm etwas auf. Es waren Schnipsel aus einem Papier Schredder. Und diese Schnipsel waren hand beschrieben worden. Ein seltsames Gefühl bestieg ihn. Eine fast vergessene Erinnerung kam in ihm hoch. Er hatte ihr Briefe geschrieben. Mit der Erinnerung überkam ihn ein Übelkeit erregendes Schamgefühl. Ja, er hatte ihr Briefe geschrieben. Rücksichtlose, egoistische Liebesbriefe ohne Einhalt. Fast wie eine Sucht war es gewesen. Dieses Bedürfnis von ihr wahrgenommen zu werden, dieser Schmerz, der Sehnsucht nach ihrer Aufmerksamkeit verfallen zu sein. Nun, das war lange vergangen. Er hatte sich schließlich wieder eingekriegt. 
 
Er stopfte die letzten Schnipsel in die Tonne, entfernte gehetzt mit der anderen Hand die an seiner Rechten hängen gebliebenen Reste, so als würde es sich um widerliche Tentakeln einer giftigen Krake handeln. Schließlich war der Deckel zu. Morgen würde er den Sack runter bringen, am Mittwoch würde die Müllabfuhr kommen und dann wären all die unangenehmen Gedanken, Erinnerungen und Fragen aus seinem Leben entfernt. Jetzt musste er damit leben, aber bald schon würden sie verblassen, und falls sie kein neues Futter bekämen, würde er sie in Kürze los sein.
 
Als er ins Bad ging und den Wasserhahn aufdrehte, kam ihm ein schöner Gedanke. Er würde sich einen Wellensittich anschaffen. Die Idee war ihm im Tierheim gekommen, als er das Taubenküken abgegeben hatte. Ein Wellensittich war dazu geschaffen, seinen Besitzer zu beglücken. Er würde putzig aussehen, wäre leicht zu halten und würde einen durch sein Gezwitscher erfreuen. In einem hübschen, sauberen Käfig wäre er schön anzusehen. Und falls er nach ein paar Jahren sterben würde, könnte man sich einfach einen neuen kaufen. Ohne viel Gefühlsaufwand. Ja, das war ein guter Plan.
 
HvvH`XX/04/2005 - entstanden in Düsseldorf

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