Dienstag, 18. Juni 2024

Kurzgeschichte Nr.14 "Das, was bleibt..."

Er schaffte den Weg nachhause nicht mehr... Sein Rollator polterte - immer wieder festklemmend - über das unebene Kopfsteinpflaster und Donald wusste nicht mehr, wo er abbiegen musste, um zu seiner Straße zu gelangen... Der kleine Einkauf, den er getätigt hatte, hatte ihn drei Stunden gekostet. Immer wieder hatte er anhalten müssen, um sich auf den schmalen Sitzsteg seiner Gehilfe zu setzen und stumpfsinnig vor sich hinzustarren, bis er zumindest wieder ein wenig Kraft in seinen alten Knochen spürte. Wie er das Einkaufen hasste! Es war aber auch eine Zumutung,- in seinem Alter, bei seinen Gebrechen! Eigentlich hätte er deshalb schon längst Hilfe beantragen müssen, aber die konnte er sich nicht leisten... Und nun das: wie war nochmal der Name seiner Straße, wie sah sie nochmal aus? Er wusste es nicht mehr... Er wohnte bereits seit sechzig Jahren hier und mit einem Mal war sie wie aus seinem Gedächtnis gelöscht!

 

Plötzlich geschah etwas Wundersames. Er saß auf seinem Rollator und erblickte rund um sich herum hunderte kleiner Pflänzchen, die Knospen trieben. Sie wuchsen so schnell, daß man ihre Bewegungen mit dem Auge nachvollziehen konnte. Ruckelnd verlängerten sich die schmalen Blätter und streckten sich in alle Richtungen, während die mittigen Knospen immer mehr anschwollen... Die Planzen sprossen überall, auf dem Asphalt der Straße, auf dem Kopfsteinpflaster des Gehweges und auf den Grundstücken der Mehrparteienhäuser am Wegesrand... Es war wie ein Wunder. Donald staunte. Er hatte noch nie etwas dieser Art gesehen und fragte sich, ob er wohl gerade träumte. Er fing an zu lachen. Da platzten die Knospen der unzähligen Pflanzen auf. Heraus kamen phosphorisierende, leuchtend-blaue Sterne: wunderschön anzusehen! Sie bewegten sich leicht von links nach rechts, so als würden sie einem fernen Gesang lauschen...

 

Da musste Donald husten. Augenblicklich erstarrten die Blumen in ihrem Wachstum und hielten vollkommen still. Donald hustete noch einmal, es kratzte ihm im Hals, er räusperte sich. Da hörte er ein großes Seufzen und alle Pflanzen um ihn herum schrumpften zusammen und verkrochen sich wieder in die Erde, aus der sie gekommen waren... Alle, bis auf eine, und die sagte: "Hallo Donald!" 

 

HvvH`18/06/24 Entstanden in Neugreußnig (Ebersbach) bei Döbeln, Sachsen

Freitag, 9. Dezember 2022

Kurzgeschichte Nr.13 "Das Gespräch im Spiegel"

Es war einmal heute. Das Heute von heute. Das Jetzt.
 
Sie atmete flach... Wie konnte der Körper nur funktionieren mit so wenig Sauerstoff? Kaum hob und senkte sich ihr Brustkorb... Sie atmete tief ein. Und wieder aus. Ungewohnt... Also wieder flach atmen... So als wäre sie auf der Jagd und würde versuchen, keinen Mucks von sich zu geben. 
 
Plötzlich hörte sie ein Geräusch von der Fensterbank. Sie drehte sich um. Da saß eine graue Taube! "Wer bist du?" dachte sie sich "Woher kommst du und was willst du..? Was ist dein Begehren?" Die Taube schloss die Augen und öffnete ihre beiden Flügel. Spreizte sie weit auseinander... Da hörte Louisianne die Stimme der Taube in ihrem Kopf. "Ich bin dein Schicksal, das auf dich wartet..." Louisianne schloss ebenfalls die Augen und versuchte sich auf die Stimme der Taube in ihrem Kopf zu konzentrieren... "Aber mein Schicksal hat bereits begonnen..,- es steht fest." "Wie kommst du darauf? Weißt du denn nicht,-..?" Die Taube unterbrach sich, dann Stille, dann ein Autoquietschen und wieder Stille. Louisianne öffnete die Augen. Die Taube war weg. 
 
Louisianne rannte zum Fenster und sah nach unten. Da lag die Taube, platt und zerquetscht, die Eingeweide quollen zu beiden Seiten aus dem Körper, der Kopf war aufgeplatzt, man konnte nur noch einen kaputten Schnabel ausmachen. "Was weiß ich nicht?" rief Louisianne. "W-a-s weiß ich nicht?!?" 
 
Keine Antwort, die Taube war tot. "Die Fensterscheibe ist ganz schön schmutzig" dachte Louisianne verärgert. Die muss mal wieder geputzt werden. Sie seufzte. Dann ging sie ins Bad, nahm den kleinen Eimer, ging in die Küche und ließ heißes Wasse mit Spüli ein. Sie nutzte den Moment und hielt ihre rechte Hand in den mehr als warmen Wasserstrahl. Das tat gut... Kurz die Augen schließen und genießen... Dann die Augen wieder auf und die Hände abgetrocknet... Sie suchte sich die Putzsachen zusammen, zog die kleine Leiter hinter dem Schrank hervor und ging ins Schlafzimmer.
 
Warum hatte sie sich auch gerade hingelegt? Es war doch hellichter Tag? Müde war sie eigentlich nicht gewesen, aber ruhebedürftig. Sie stellte sich vor das Fenster, klappte die Leiter auseinander und bestieg die breiten Stufen. Eins, zwei, drei. Sie warf nochmal einen Blick aus dem Fenster. Dort, wo eben noch die tote Taube gelegen hatte, war nun eine tiefschwarze Wasserpfütze. Louisianne öffnete das Fenster und beugte sich weit noch vorne. Sie schaute jetzt direkt in die Pfütze. Diese war glatt wie ein Spiegel. Louisianne sah sich selbst. Große Augen, Stubsnase und einen schmalen Mund,- nicht den vollen einer Diva, eher der verschmitzte von einer Kumpeline, mit der man Pferde stehlen konnte. Louisianne öffnete die Lippen und formte ihren Mund zu einem "O". Plötzlich bewegte sich in der spiegelnden Pfütze im Schwarz ihres geöffneten Mundes etwas. Zwei kleine Augen blinzelten hervor. Louisianne sah den Kopf der Taube in ihrem Mund! Wie aus einem Astloch schaute die Taube daraus hervor... 
 
Louisianne schloss ihren Mund, presste die Lippen fest aufeinander, zog sich zurück und machte das Fenster zu. Sie spürte nichts. Die Taube war nicht in ihrem Mund. Nur ihre Zähne und ihre Zunge... Vorsichtshalber schluckte sie den gesamten Speichel herunter. Sofort wurde neuer produziert und drang aus den Drüsen, die unter ihrer Zunge lagen. Auch diesen schluckte sie hinunter. Da kam ihr Freund von der Arbeit heim. 
 
Sie hörte die Wohnungstür aufgehen und dann seine Schritte... Da stand er im Türrahmen. Er lächelte, schaute sie strahlend an und fragte: "Wie war dein Tag?" Louisianne stieg von der Leiter und rannte auf ihn zu. Sie wollte ihm alles erzählen. Eifrig öffnete sie ihren Mund, da spürte sie sie... Die Taube... In ihrem Mund! Louisianne konnte den Mund nicht mehr schließen, so füllte die Taube ihren gesamten Mundraum aus. Die Taube fing an zu gurren. Sie gurrte und gurrte und gurrte. Wie ein plätschernder Bach. 
 
Louisianne erstarrte. Ihr Blick verengte sich. Sie konnte gerade noch erkennen, wie ihr Freund ihr interessiert in die Augen schaute und fragte: "Ach wirklich, und dann? Erzähl weiter...". Die Taube wippte mit ihrem Kopf auf und ab und gurrte in den unterschiedlichsten Tonlagen. Da erstarrte auch Louisianne`s Freund. Gemeinsam standen sich Louisianne und ihr Freund gegenüber, Louisianne mit geöffnetem Mund und ihr Freund mit einem interessierten Blick, dem Gurren der Taube fasziniert lauschend. "Er schaut mir in die Augen, direkt in die Augen und er hört mir zu" dachte sich Louisianne noch... Sie war sich sicher, daß das Gurren der Taube keine Bedeutung hatte.
 
Zumindest nicht für sie...
 
HvvH`20/10/22 entstanden in Neugreußnig (Ebersbach) bei Döbeln, Sachsen

Kurzgeschichte Nr.12 "(ohne Titel)"

Geradeaus ging es nicht weiter. Zur Seite war auch alles verbaut. Also wieder zurück.Wieder an all den Dingen vorbei, die sie bereits gesehen hatte. 
 
Aber, so tröstete sie sich,- die Dinge wären zwar dieselben, nicht aber die Menschen. Die wären anders, allein schon weil sie nicht mehr dieselbe war. Sie würde sie mit anderen Augen sehen. Aber wollte sie das überhaupt? Wenn man es ganz genau nahm, müßte man sich eingestehen, dass es kein Zurück gab. 
 
So wie die Zeit immer nur zukünftig voranschreitet, so geht auch der Lebensweg immer nur schnurstracks gen Neuland. Nie weiß man da, woran man ist. Und das ist auch gut so. So kann man davon träumen, was wohl bald sein wird und wie sich die Dinge entwickeln, oder einfach nur dankbar sein dafür, wie sich das Leben in der Gegenwart verhält... 
 
Wenn es also im Leben nur voran geht, dann, so dachte sie mit plötzlichem Trotz,- dann auch hier. Sie würde geradeaus gehen und ihren Weg schon finden. Sie würde weder kehrt machen, noch seitlich einen Weg suchen, sondern direkt und der Nase nach vorwärtsschreiten. Also trat sie an den Baustellenzaun und lugte durch die Holzlattenritzen. 
 
Das was sie sofort erkannte war das riesige Bauloch. Das was ihr erst auf den zweiten Blick ins Auge fiel, war die tote Katze. Sie lag quer über einem Stapel rostiger Stahlträger, und ihr Verwesungszustand war schon so weit fortgeschritten, dass ihr geplätteter Körper wellenförmig an den unebenen Untergrund angeschmiegt war. Der Bauch war eingefallen und der Brustkorb ragte deutlich hervor. Die Katze, sie musste schon eine ganze Weile dort liegen... Arme Katze! Wodurch sie wohl ihren Tod gefunden hatte? 
 
Lilli stellte sich vor, dass die Katze über das Baustellengelände tappste und beim Überqueren der Stahlträger einfach tot umfiel. Ja, das schien ihr am plausibelsten. Alles ander wäre zu theatralisch. Es hatte kein Jagd stattgefunden, kein Feind hatte sich der flinken Vierbeinerin entgegengestellt oder sie hinterrücks gemeuchelt. Sie war einfach sang und klanglos erloschen. 
 
Und nun lag sie da, und der einzige, der sie zu sehen schien, war Lilli. Wo waren überhaupt die Bauarbeiter? Es war unter der Woche, eigentlich müsste auf dem Baustellengelände rege und lautstarke Arbeit vorherrschen, aber es war mucksmäuschenstill und kein Mensch zu sehen. Nur die Sonne brannte in das grellreflektierende, ockerfarbene Bauloch und kleine Sandwolken wehten zwischen den aufgehäuften Bauschuttbergen. 
 
- unvollendet
 
HvvH`16/07/14 - entstanden in Neugreußnig (Ebersbach) bei Döbeln, Sachsen

Kurzgeschichte Nr.11 "Mit der Nase voran"

Er war eher der ritterliche Typ. Könnte man meinen. Nur was genau hieß eigentlich ritterlich? Wäre es ritterlich gewesen, wenn er einem beigestanden hätte, oder war es tatsächlich ritterlich, dass er es vorzog sich zum passenden Zeitpunkt zurückzuziehen? Im Grunde waren wir doch alle Egoisten und redeten uns unser Verhalten einfach nur schön. Ritter hin oder her,- das Pferd war jedenfalls weg! Und darum tat es ihr eigentlich am meisten leid... Es wäre ihre Chance gewesen. Nicht nur um zu überprüfen, ob das Ideal, das sie sich schon seit ihrer frühesten Kindheit von diesem edlen Begleiter gemacht hatte, auch nur annähernd der Wirklichkeit entsprach, sondern auch, um zu sehen, wie so ein märchen- und sagenhaftes Geschöpf wohl auf sie, auf ihre ureigenste Person, reagiert hätte. Ob es sich ihr anvertraut, oder sie stattdessen vielleicht völlig ignoriert hätte. Nun würde sie es niemals erfahren...

Aber nein, auch das glaubte sie nicht wirklich. Sie würde es erfahren. Eines Tages, bei Zeiten. Nur war der Weg nun keine Abkürzung mehr, und er trug auch einen anderen Namen. Der wahre Weg war eben nie eine Abkürzung. Am Ende würde sie nicht passiv errettet werden, sondern sie würde sich aktiv selbst verwandeln. Verwandeln in eines jener Geschöpfe, nach denen sie sich schon immer gesehnt hatte. Geschöpfe, die nie sprachen, außer mit ihren Augen, diesen wundervollen, dunklen, glänzenden Halbkugeln, die so viel zu sehen schienen. Geschöpfe, die eine immense Kraft besaßen, ohne brachial zu sein und stattdessen an vielen Stellen ihres Körpers eine erstaunliche Feingliedrigkeit besaßen. Geschöpfe, deren Zeit, falls sie denn an ihrem schwächsten Punkt verletzt werden würden, augenblicklich abgelaufen wäre, weil der schwächste Punkt, einmal gebrochen, nicht mehr genügend Stabilität für die unbändige Kraft des Lebens besessen hätte. 
 
Diesen Umstand hatte sie früher als extrem unfair empfunden, als grotesk und absolute Verschwendung der Schönheit, des Anmutes und Zaubers,- aber nun wusste sie, dass es nur konsequent war. Warum auch so tun, als würde es immer weitergehen. Wenn es doch nicht stimmte. In den alten Geschichten war in einem solchen Falle Schluss. Nur im Leben ging es immer weiter. Obwohl man noch gar nicht verstanden hatte, was einem da eigentlich gerade passiert war. Sich nicht klargemacht hatte, was man davon hätte halten können. Und absolut keine Vorstellung davon entwickelt hatte, wie man hätte handeln können.
 
Aber was diesen letzten Punkt anging, hatte sie schon immer eine sehr eigenwillige Haltung eingenommen. Sie überliess ihn in einem solchen Fall einfach gerne der Zeit. Diese würde dieses Tohuwabohu nach und nach zusammensammeln, es ordentlich durchkneten, wenn es sein musste, über Jahre hinweg, den Teig dann, solange es nötig sein würde, liegenlassen, so dass er quellen würde bis er durch und durch luftig und weich wäre. Nach einer solchen Behandlung wäre schließlich alles bereit,- jedes Problem, jeder erbärmliche Gedanke, jedes noch so verquere Gefühl, und alles was die Zeit dann lediglich noch zu tun hätte, wäre dieses Problem, das schon keines mehr wäre, durch die Hitze der Jetztzeit wieder zu aktivieren.
 
Die Veränderung kündigt sich dem Menschen dann mit einem Duft an. Einem Geruch, der ihn an vergangene Zeiten erinnert, an Menschen, deren Wege er einmal gekreuzt hat. Der Mensch weiß es nicht, aber bevor er jemanden nach langer Zeit wiedertrifft, kann er ihn - lange davor schon - auch wirklich wieder riechen...
 
HvvH`03/04/13 - entstanden in Düsseldorf

Kurzgeschichte Nr.10 "(ohne Titel)"

Zur Ruine, da zog es sie hin. Die Vorstellung ihn dort schicksalhaft zu treffen, war so fest in ihrer Vorstellung verankert, als ob sie eine Wahrsagerin mit Auszeichnung wäre. Er würde ahnungslos angejoggt kommen, sie würde mit hochgezogenen Knien seitlich angelehnt in einem toten Fensterauge aus Mauergestein sitzen und in die Landschaft schauen. Das war elementar wichtig. Dieses im-Schicksal-aufgehoben-sein und nicht-daran-zweifeln, dass der Traum sich realisieren würde. Gleichzeitig die vermeintliche Gleichgültigkeit gegenüber der realen Umsetzen des lange Erwarteten. Wie eine Schlafwandlerin würde sie ihn begrüßen, ruhig und befriedigt.

HvvH`19/01/08 - entstanden in Düsseldorf

Kurzgeschichte Nr.9 "Wenn der Schlüssel fehlt"

Irgendwie klemmte die Tür. Er zog und zerrte, drückte dann und presste mit beiden Händen, aber sie rastete auch nicht mehr richtig ein. Und der Autoschlüssel war bei Karl... 
 
Zu dumm, was sollte er nun machen? Warten? Das konnte Stunden dauern! Einfach gehen? Wenn er die Tür nicht mehr aufbekam, würde das schließlich auch kein Fremder schaffen. Er hasste diese Halbzustände, wenn etwas nicht richtig drin aber auch nicht richtig draußen, nicht richtig offen aber auch nicht richtig zu war. Wenn etwas nicht richtig richtig war. Damit konnte er nur schlecht leben. Er fühlte sich dann sehr unwohl und absolut unentspannt. 
 
Aus einem Reflex heraus trat er mit der weichen Gummisohle seines Wanderstiefels gegen die Tür. Etwas im Scharnier zerbarst. Na toll! Mit einem störrischen Quietschen schwenkte die Tür langsam auf. Er schaute mit stumpfem Blick in das Innere des Wagens. Hol ́s doch der Teufel! Er war nicht in der Lage auch nur den kleinsten klaren Gedanken zu fassen. Warum war er nicht einfach im Wagen liegengeblieben? Gut, das war zwar nicht sehr bequem gewesen, aber immerhin hatte er eine Decke und ein Dach über dem Kopf gehabt. Und die Autopapiere zum Lesen. Immerhin. Und jetzt? Jetzt war der Wagen kaputt. Weil er sich mal wieder nicht hatte beherrschen können. Wieviel so eine Reparatur wohl kosten würde? Bestimmt so einiges. Und das Gesicht von Karl konnte er sich auch schon ausmalen.
 
Instinktiv schaute er nach hinten. Karl näherte sich dem Parkplatz. Wieso jetzt schon? Zuerst kam und kam er nicht, aber kaum hatte Erhard wieder mal was verbrochen, erschien er pünktlich wie ein Engel um zu richten. Zu richten mit strengem Blick, zutiefst enttäuscht, so dass Karl in Rage geriet, und Vorwürfen die auch noch alle absolut berechtigt waren.
 
HvvH`XX/08/06 - entstanden in Düsseldorf

Kurzgeschichte Nr.8 "(ohne Titel)"

Übel war ihr. Nicht so sehr im Magenbereich, vielmehr im Kopf. Sie spürte förmlich die Maschinerie hinter ihrer Stirn arbeiten, immer und immer wieder in derselben Prozedur. Sie atmete die kalte Luft tief ein und es wurde ihr besser. Langsam legte sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Erinnerungen wollten in ihr Bewusstsein, keine schönen, aber durch die Ferne des Schmerzes bittersüße. Sie ließ sie nicht herein. 
 
Noch einmal atmete sie eiskalte Luft, streckte ihre Arme aus und schaute nach unten. Das Großstadtmeer breitete sich zu ihren Füßen aus. Autos, so winzig, dass man ihren Lärm nicht mehr wahrnahm, Häuser und Plätze und Seen und Parks. Alles was zum aufregenden, abwechslungsreichen Leben in einer Metropole gehörte lag versammelt zu ihren Füßen. Marianne führte ihre Hand nach unten und streichelte die Autos, Straßen, Kirchen, Grünflächen, alles streichelte sie, aber die Menschen streichelte sie nicht, zu klein waren diese, sie konnte sie nicht sehen.
 
Ihr friedvolles, segnendes Lächeln verschwand und an seine Stelle trat eine Fratze. Mit weitaufgerissenem Mund, die Lippen hinter Zähnen und Zahnfleisch angespannt, rollte sie mit den Augen, legte ihren Kopf in den Nacken und schrie. Sie schrie und schrie und schrie. Sie schien in mehreren Stimmlagen gleichzeitig zu schreien. Hoch und grell, dumpf und krächzend, kraftvoll und gewaltig. Und doch hörte sie selbst nur einen geringen Prozentsatz dessen, was aus ihrem Rachen stürzte. Der Wind trug alles mit sich fort. Sie schrie auch noch, als sie längst wieder einatmen wollte. Sie presste den letzten Kubikzentimeter Luft röchelnd aus sich heraus, reinigte ihren Körper durch diese konsequente Lufttransfusion, die auch die letzten Kämmerchen ihrer Lunge leerte. Dann versagten ihre Beine. Der Körper klappte zusammen, ihr Po knallte auf ihre Fersen, und mit dem Rücken plumpste sie auf das geteerte, flache Dach. 
 
Sie rang nach Atem. Wand sich nach rechts und links, hob ihre Hände an ihr Gesicht und atmete ein. Lange ein. Tief ein. Ihr Körper wuchs und schwoll an. Die Rippen öffneten sich wie eine Blume. Sie stampfte mit den Fußflächen links und rechts auf den Boden, hob ihren Hintern an und drückte den Rücken durch. So verharrte sie bis es nicht mehr weiterging. Sie war voller Luft. Voller kalter, klarer,reiner Luft. Dann wurde sie ohnmächtig.
 
Sie erwachte, als es anfing zu regnen. Kleine Tropfen platschten auf ihr Gesicht, kitzelten sie an der Nase, flossen in ihren Mund. Waren sie salzig? Weinte der Himmel? Sie drehte sich auf den Rücken und blinzelte lächelnd nach oben. Sei nicht traurig, ich werde dich trösten, dachte sie und streckte ihre Hand in die dunklen Wolken. Erst wusste sie nicht genau welche sie nehmen sollte, dann entschied sie sich für eine kleine runde Wolke, die aussah wie ein Gesicht mit einer Clownsnase. Diese pflückte sie vom Himmel und stopfte sie sich bedächtig in den Mund. Ich werde den Himmel trösten, dachte sie, er soll nicht traurig sein wegen mir. Und so pflückte sie schnell Wolke um Wolke vom Himmel, verschlang sie und fühlte sich glücklich. Die Sonne strahlte vom Himmel, er war wieder blau. Marianne wischte sich die Tränen von den Wangen und lächelte verschämt. Sie schaute auf ihre Uhr, es war siebzehn Uhr einunddreißig. Das Leben erwartete sie.
 
HvvH`XX/08/06 - entstanden in Düsseldorf

Kurzgeschichte Nr.14 "Das, was bleibt..."

Er schaffte den Weg nachhause nicht mehr... Sein Rollator polterte - immer wieder festklemmend - über das unebene Kopfsteinpflaster und Dona...